Denken ist der Antrieb jedes Menschen, nur wer denkt kann menschlich handeln. Es wird durch Gefühle, Situationen, Eindrücke oder Personen ausgelöst, oder es entwickelt sich abstrakt. Denken ist notwendig und vor allem in Design und Werbung wichtig.

Wir sprachen unter anderem mit Thomas und Martin Poschauko über Ihr Kreativbuch »Nea Maschina«, mit Prof. Heik Afheldt über »Denken mit dem Wissen von Gestern für die Chancen von Morgen«, mit der Professorin Uta Brandes über »Gender Forschung – Frauen (und Männer) und Design« und mit Mario Pricken, dem Autor von »Kribbeln im Kopf«. Außerdem gibt es ein illustratives Interview von und mit Alessio Leonardi.Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!

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DENKEN
DMIG–8 Denken
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WWW.DBUECHSENSCHUETZ.DE

INHALT
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Nea Machina
Interview mit Thomas und Martin Poschauko
12
Andreas Jacobs über
Querdenken und Organisation
17
Es kommt auf die Einstellung an Text von Nicola Fritze
22
Typographie denken
Text von Johannes Steil M.A.
27
Denken — Interview mit Mario Pricken
29
Welt des Digitalen Wissens Text von Matthias Müller-Prove
Gender Calling
Text von Dominique Esser
42
Gender Forschung – Frauen (und Männer) und Design Interview mit Uta Brandes
46
Was Alessio Leonardi denkt, wenn er denkt, dass er denkt … Ein illustratives Interview von und mit Alessio Leonardi
55
Informations- und Orientie- rungssystem der staatlichen Schlösser, Burgen und Gärten des Landes Sachsen — Interview mit Michael Blomeier, Christian Lessing und Fritjof Wild
Denken – Über Urheberrecht, Plagiate und Creative Commons Designrecht – Serie von
Jens O. Brelle (Art Lawyer)
65
Keine Welt wie eine andere Interview mit
Kerstin Oberdörfer
74
Markus Nebel – Psychogramm des Selbstständigen Interview mit Markus Nebel
80
Denken mit dem Wissen
von Gestern für die Chancen von Morgen – Interview mit
Prof. Heik Afheldt
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EDITORIAL
DMIG 8 »Denken«

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NEA MACHINA
MARTIN POSCHAUKO
INTERVIEW MIT
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THOMAS UND

Was passiert, wenn man kreative Ideen ein- fach sprießen lässt. Wenn Kopf- und Bauch- gefühl zusammenarbeiten und was wenn nicht? Wie kann freies Experimentieren zu kreativen Ergebnissen führen? Es gibt zwei Designer, die das in jedem Fall wissen, denn sie haben sich dem Thema in ihrer Diplom- arbeit gewidmet und direkt danach auch
noch ein Buch daraus gemacht, das unter dem Namen »Nea Machina« im Verlag Hermann Schmidt Mainz erschienen ist. Darüber wie man Kreativität und Denken zusammenbringen kann, haben wir mit den Brüdern Thomas
und Martin Poschauko gesprochen.
Wie lassen sich Kreativität und strukturelles Denken zusammenbringen?
Grundsätzlich ist Kreativität für uns oft etwas sehr Strukturel- les, oft etwas ganz Pragmatisch Systematisches …
Wenn mit der Frage das Zusammenbringen von intuitivem und planerischem Gestalten gemeint ist:
Wir denken, da sind zwei Dinge wichtig. Erst einmal muss ich mir selbst zugestehen, dass ich wirklich beide Positionen besetzen kann. Niemand von uns ist nur pragmatischer Spießer oder nur das naive Spielkind. Wir glauben, dieses ganzheitliche Denken ist schon einmal der erste Schritt. Ohne Ideologie fährt man besser.
Dazu haben wir festgestellt, dass es gut funktioniert, diese beiden Instanzen (als eine Art Gedankenkonzept) klar voneinander zu trennen und sie im Wechsel zu sehen. Spielen, Kontrolle abgeben, dann wieder kontrollieren und auswerten… Eigentlich wie eine Vater- Kind-Situation: Das Kind spielt jenseits von Regeln, es denkt nicht über »richtig oder falsch« nach, der Vater erhält Input für seinen oft allzu planerischen Denkprozess und gibt dem Kind im Gegenzug wie- der Struktur. Und beide Positionen kann man als Designer als eine
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einzige Person leisten. Wichtig ist für uns vor allem, dass man diese beiden Prozesse bei allen Unterschieden nicht als Gegner, son- dern als Partner erkennt.
Im letzten Jahr erschien im Hermann Schmidt Verlag euer Buch »Nea Machina«, das einen ganzen Kreativprozess beschreibt. Wie entstand die Idee dazu, aus einem Begriff (Nea Machina) und einem Bild, verschiedene Ausdrucksweisen zu entwickeln?
Im Grunde war die Idee ganz schnell da… Wir wollten uns eine Art Skizzenbuch mit unserem kompletten Stil-Repertoire er- schaffen, weil wir der Meinung waren, dass unsere damalige stilistische Bandbreite viel zu gering war. Und um eine Vergleichbarkeit zu haben, brauchten wir ein gleichbleibendes Motiv. Unsere Wahl fiel auf ein menschliches Portrait, weil das einfach ein sehr starkes und interpretationswürdiges Motiv ist und es uns außerdem erleichtert in verschiedenen Stilen konkrete Gefühle zu erkennen. Der Begriff »Nea Machina« war für uns vordergründig nur ein typografisch interessanter Schriftzug, also das »Buchstaben-Material« für unser Design, bezeichnet aber auch das Wesen un- serer Arbeit. Die griechischen Wörter lauten
übersetzt »Die neue Maschine«, ein Verweis auf die Kombination von alten und neuen Techniken, digital wie manuell.
Von unserem Experiment erhofften wir uns neue Sichtweisen, jenseits von Kon- zept und sich ständig wiederholenden Stilen, wir wollten über das Normale hinausgehen und uns neu erfinden, also mehr machen, als die drei üblichen Entwürfe, die man dann per Konzept »rechtfertigt«. Das war unsere wichtigste Intention. Dass daraus später eine Analyse unseres ganzen Kreativprozesses wurde, konnten wir in dieser Form nicht ab- sehen.
Eurer Buch verfolgt – vereinfacht gesagt – das Prinzip »Erst machen, dann denken«. Was sind die Vor- und Nachteile dieser Methode?
Der Vorteil daran ist, dass man durch das Machen neuen Input bekommt, dass man etwas ausprobiert, dessen Ergebnis man nicht 100 prozentig vorhersehen kann. So stolpert man über Neues, Ungeplantes…
Wir denken, das aktive Umgehen, Probieren und Spielen mit einem Thema, ist der beste Weg, um es wirklich zu verstehen. Und auch das bloße Machen ist schon eine wichtige, auch sinnliche Inspiration. Es regt
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das Denken an oder ist, wie Otl Aicher sagte, oft sogar »eine Voraus- setzung des Denkens«.
Grundsätzlich benutzen wir aber ohnehin immer beide Me- thoden im Wechsel: Also »Erst machen, dann denken« UND »Erst denken, dann machen«.
Würden wir nur die Methode »Erst machen, dann denken« benutzen, wäre das für eine gut geplant visuelle Kommunikation si- cher zu wenig zielgerichtet. Aber wir denken, dass die Gefahr bei Designern eher darin liegt, allzu verkopft und strukturiert zu sein, als zu frei und zu verspielt. Die Struktur bringt der Beruf dann von ganz alleine …
Ihr beschreibt euren Arbeitsprozess so, dass Abstraktion und Assoziation zu neuen Ideen führen. Eine aufgestoßene Tür öffnet also viele weitere, durch die man gehen kann.
Besteht nicht auch Gefahr, dass sich Ideen so tot laufen oder
man das Interesse verliert?
Wir wissen mittlerweile sehr gut, wann eine Idee wirklich spannend ist und wann man besser aufhört, zu assoziieren und zu va- riieren. Das ist aber eine sehr intuitive Sache, die wir über die letzten Jahre lernen mussten. Dazu muss man wirklich wissen, was man will und gewissermaßen auch, welche Idee »Durchschnitt« und welche richtig gut ist.
Als junge Studenten lieferte uns diese Taktik aber oft eine Übermacht an Wegen und Möglichkeiten. Da haben wir uns schon das ein oder andere Mal verloren. Aber wenn wir ein konkretes, struk- turgebendes Projekt (damals waren das meistens CD-Covers) bear- beiteten, war das eigentlich nie ein Problem.
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Wann ist eine Idee wirklich ausgereizt?
Wahrscheinlich ist eine Idee nie wirk- lich ausgereizt, zumindest nicht nach mess- baren Bewertungskriterien. Bei uns ist das eher ein ganz sicheres wohltuendes Gefühl, das sich da in der Magengegend einstellt, wenn Konzept und Inhalt ineinander »einras- ten«. Dann wissen wir: »Es passt«. Aber im Grunde sind wir uns schon immer bewusst, dass es auch noch viele weitere Wege gege- ben hätte. Die EINE richtige Lösung gibt es nicht…, glauben wir zumindest.
Ist diese Art der Herangehens- weise etwas, das man lernen kann oder etwas, das einem in die Wiege gelegt ist? Manche Menschen denken eher rational, andere emotional … Wie trainiert man dieses »verkopfte« Denken weg?
Schwer zu sagen. Jeder hat ein we- nig andere Fähigkeiten. Wir denken schon, dass jeder lernen kann die »andere Seite« in sich zu berücksichtigen. Denn wir denken alle emotional wie rational.
Wir trainieren das Verkopfte aber nicht direkt weg, denn unsere Prozesse sind zwischendurch immer wieder höchst pragma- tisch. Wir versuchen uns nur selbst ab und zu
kleine Fallen zu stellen, die uns die Kontrolle aus den Händen nehmen und dem Kopf ge- wissermaßen gar keine Chance geben. Zum Beispiel hohe Geschwindigkeit, Zufallsprinzi- pien wie Würfeln oder Materialien, die sich nicht wirklich kontrollieren lassen.
Viele Designer und Kreative haben oftmals eine gewisse Angst, sich einem Projekt zu nähern, vermutlich aus Angst zu scheitern. Die berühmte »Ideenlosigkeit«. Kennt ihr diese Angst? Und wenn ja, was macht ihr dagegen?
Wir haben bei Projekten eher Res- pekt vor deren Dimension, also allem was an Arbeitsstunden und finanziellen Risiken dar- an hängt. Aber die Angst, keine Idee zu ha- ben, haben wir eigentlich nie. Vielleicht ist es gerade die Überzeugung, dass wir schon zum richtigen Zeitpunkt die richtige Idee finden werden, die uns die nötige Sicherheit gibt.
Aber klar, an manchen Tagen braucht man schon eine gute Portion Mut, um wirk- lich loszulegen und nicht gleich am ersten falschen Strich zu verzweifeln. Eine gute An- fangstaktik ist oft, in einer lockeren Situati- on mit einem Thema zu spielen und jeglichen Druck beiseite zu lassen. sich also selbst zu vermitteln: »So wichtig ist es ja gar nicht«.
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Wir geben uns so das Gefühl »spielen zu dürfen« anstatt »arbeiten zu müssen«. Das klappt meistens ganz gut.
Der Berufsalltag eines Designers ist meist von engem Zeitrahmen geprägt, Ideen müssen am Fließband produziert und umgesetzt werden. Welchen Rat gebt ihr Designern, um in solchen Phasen trotzdem kreativ zu bleiben und »out of the box« zu denken?
Wir glauben, der größte Mut, den wir in unserem Beruf ha- ben müssen, ist der Mut, unprofessionell zu sein, sich eine Pause zu geben, raus zu gehen… oder allgemein: das machen, was uns gut tut. Auch wenn es immer stressig ist.
Aber dauernd in diesem Hamsterrad mitzulaufen, wirkt auf uns irgendwie unlogisch. Es kann nämlich nicht sein, dass wir jah- relang rund um die Uhr arbeiten, immer auf den letzten Drücker fer- tig werden, aber nicht mal ein paar Stunden monatlich für kreative Pausen und inspirierende »Streifzüge« außerhalb von Bildschirm und Büro haben.
Was sicher hilft, ist es, in ruhigen Phasen (die man sich be- wusst freiblocken muss) ein Skizzenbuch zu führen und einfach alles an Ideen festzuhalten etc …
Dann hat man in stressigen Phasen einen kreativen Fundus und kann darauf zurückgreifen. Aber ohne gezielte Phasen des freien Probierens ist die Gefahr groß, dass man sich nur noch wiederholt, weil man immer die bereits erprobten Wege geht.
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Woher nehmt ihr eure Ideen?
Oft lesen wir sie einfach in unserer Umgebung ab… Meis- tens liegen die guten Dinge vor uns auf der Straße. Die wichtigste Erkenntnis für uns war eigentlich, dass unser Kopf nicht der Ursprung aller Ideen ist, sondern dass uns die Ideen umgeben. Piet Mondrian sagt dazu: »Die Position des Künstlers ist bescheiden, er ist im we- sentlichen ein Kanal,« also eine passive, eher demütige Position.
Grundsätzlich versuchen wir einfach vieles in unsere Arbeit einfließen zu lassen, was uns persönlich inspiriert und fasziniert. Und dann ist das alles gar nicht so schwer …
Im Gegensatz zu vielen Designern und Kreativen habt ihr euch dagegen entschieden, in einer der typischen Kreativstädte zu leben und zu arbeiten. Gerade Metropolen wie Berlin oder Ham- burg werden von Designern wegen ihrer kreativen Möglichkeiten und Inspirationen geschätzt… Warum? Kann einen die Kreativität der Umwelt möglicherweise auch erschlagen?
Wir sind bewusst in unseren Heimatort zurückgekehrt. Das ist ein kleines Dorf in Oberbayern, in dem eigentlich keiner so richtig mit Design zu tun hat. Für uns ist das wunderbar so, weil wir nicht ständig mit dem Design anderer überflutet werden. Das kann einen ja schon ein bisschen verwirren, wenn nicht sogar verunsichern. Ja, wir glauben schon, dass einen die ständig präsente Kreativität der anderen, wie in Berlin zum Beispiel, auch erschlagen kann.
Aber das ist sicher eine Frage der Prägung. wir brauchen eben die Ruhe, andere vielleicht eine pulsierende Großstadt.
Wir haben jedenfalls nicht den Eindruck, dass uns etwas ent- geht, wenn wir nicht in den pulsierenden Design-Städten sind. Auch wenn gerade Berlin ein unheimlich faszinierender Ort ist, den wir sehr mögen. Da reichen uns aber auch 4 Tage TYPO und unsere Quel- le ist wieder für ein Jahr voll.
Grundsätzlich haben wir uns aber vor allem, für diesen Ort entschieden, weil wir in dieser Umgebung gerne leben und weil un- sere Familie und Freunde dort sind. Also vordergründig eine völlig »un-ideologische« Entscheidung … •
WWW.NEAMACHINA.COM / WWW.POSCHAUKO.DE
DAS INTERVIEW FÜHRTEN NADINE ROSSA &
PATRICK MARC SOMMER.
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ANDREAS JACOBS
ÜBER
ORGANISATION
INTERVIEW VON NADINE ROSSA
QUERDENKEN
UND
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Nichts ist für Designer schlimmer als die
»Angst vor dem leeren Blatt«, die Ideenlosigkeit, die nicht nur verängstigt sondern auch hemmt. Querdenken heißt hier die Antwort und Andreas Jacobs erzählt uns als »Ideenverstärker«
wie das funktioniert.
INTERVIEW VON NADINE ROSSA
Bitte stelle dich und deine Arbeit kurz vor. Wie würdest du deinen Beruf beschreiben?
»Ich bin Ideenverstärker« antworte ich gerne auf die Frage nach meinem Beruf und provoziere damit gleich die nächste Frage. »Und was macht ein Ideenverstärker?«. Das ist dann oft der Beginn eines langen Gespräches über Kreativität. Und genau das tue ich am liebsten: gemeinsam mit anderen querdenken.
Was heißt für dich Querdenken? Was ist der Unterschied zu »normalem« Denken und warum ist das vor allem für Designer und Kreative so wichtig?
Dazu muss ich kurz erklären, wie unser Gehirn funktioniert. Die linke und rechte Gehirnhälfte arbeitet sehr gegensätzlich. Die logische linke Hälfte konzentriert die Gedanken auf das Detail. Sie kennt nur »Ja« oder »Nein« als Antwort. Die emotionale rechte Hälf- te vernetzt die Gedanken in alle Richtungen. Für sie ist immer ein »sowohl, als auch« möglich. Unsere Gehirnhälften lassen sich gut mit Ernie und Bert vergleichen. Dank Schule, Ausbildung und Studi- um haben wir einen perfekt trainierten Bert im Kopf. Bert steht für das »normale« Denken. Für Gedanken, die von der Norm abweichen sollen, ist aber unser Ernie im Kopf gefragt. Leider kommt der in un- serem Bildungssystem viel zu kurz.
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Vielen Designern fällt es schwer ihre Gedanken zu strukturieren und
zu ordnen. Du hast dafür ein Prinzip entwickelt, dass du »Braingrids« nennst und das helfen kann, die Gedanken im Kopf zu strukturieren. Wie funktioniert dieses Prinzip?
Am Anfang der Ideenfindung spinnt die rechte Gehirnhälfte die Gedanken gleich- zeitig in alle Richtungen. Die linke Gehirnhälf- te stört mit Ihrem Wunsch nach Struktur und Ordnung diesen Ideenfluss. Darum unterdrü- cken viele Kreative diese Funktion. Wir hel- fen unserem Gehirn, indem wir die Struktur und Ordnung auf ein Blatt Papier auslagern. »Braingrids« sind Raster, die es dem Gehirn erlauben, sich sowohl auf die Details zu kon- zentrieren, als auch das Ganze im Blick zu be- halten.
Funktioniert diese Arbeitsweise für alle Designer? Oder ist es vielleicht sogar eine Frage der Persönlichkeit
mit »kreativem Chaos« umzugehen? sprich: Braucht vielleicht gar nicht jeder ein Ordnungssystem für Gedanken?
Ein Ordnungssystem ist wichtig, um Raum für freie Gedanken zu schaffen. Das Prinzip hinter »Braingrids« gilt für alle. Die
Methoden dienen aber nur als Inspiration für die eigene Arbeitsweise. Jeder muss sein ei- genes System entwickeln, ein System, wel- ches zum persönlichen Rhythmus passt. Wer sich dafür Zeit nimmt, stärkt seine kreative Persönlichkeit. Und große Ideen brauchen eine starke Persönlichkeit.
Die größte Angst vor allem junger Designer ist die Angst vor dem berühmten »weißen Blatt Papier«, der Ideenlosigkeit. Was rätst du,
um diesen schwierigen ersten Schritt zu überwinden?
Hör auf darüber nachzudenken und fang einfach an. Dabei ist es fast egal, was Du machst, Hauptsache Du machst. Ich selbst beginne jedes Projekt mit einem Sam- melbuch. Darin sammele ich Bilder, Gedan- ken, Zitate, erste Ideen, usw. Ich visualisie- re einfach alles, was meine Aufmerksamkeit weckt. Im zweiten Schritt brauche ich das Ganze nur noch neu zu verknüpfen und die Details nach und nach auszuarbeiten.
Was ist deiner Meinung nach der Tod jeglicher Kreativität?
Angst. Angst ist der größte Kreativi- tätskiller. Dabei ist Angst immer nur eine Zu-
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kunftsvermutung, die auf persönlichen Erfahrungen aus der Vergan- genheit basiert. Ich glaube jedoch, dass in der Zukunft alles möglich ist. Es ist immer nur eine Frage der richtigen Idee. Das beste Mittel gegen Angst ist übrigens Spaß. Mir macht es unheimlich viel Spaß, Regeln zu brechen, das Thema zu verfehlen und von meinen persön- lichen Katastrophen zu erzählen.
Gibt es so etwas wie die perfekte Umgebung, den perfekten Rahmen für kreative Ideenfindung.
Wenn wir uns entspannen, dann kommen die Ideen von ganz alleine. Das Badezimmer, das Bett oder die freie Natur sind für die meisten sehr kreative Orte. Kaum jemand hat jedoch am Arbeitsplatz Zeit und Raum für geniale Ideen. Und da empfehle ich jedem, alte Ge- wohnheiten abzulegen, um sich neue anzueignen. Ich selbst habe mir jetzt einen perfekten Rahmen geschaffen und eröffne im November 2011 mein neues Atelier: Die kaiserliche Anstalt. Mit allem, was für mich zu einer inspirierenden Umgebung gehört.
Glaubst du, dass man kreativ sein wirklich trainieren kann?
Auf jeden Fall. Ich trainiere täglich meine Kreativität. Indem ich viel darüber lese, mich mit kreativen Menschen umgebe, davon erzähle, zuhöre, Inspirationen sammele und immer Neues ausprobie- re. Es fällt mir von Tag zu Tag leichter meine eingetreten Denkpfade zu verlassen, um mir schneller und effektiver meine Träume zu ver- wirklichen.
WWW.KAISERLICHEANSTALT.DE
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Über Andreas Jabobs:
Wie man Ideen einen visuellen Kick gibt, hat Andreas Jacobs an der Hochschu- le für bildende Künste in Braunschweig stu- diert. Nach seinem Studium hat er eine De- sign-Agentur gegründet und zehn Jahre als Kreativer Kopf geleitet.
Heute konzentriert sich Andreas Ja- cobs als Redner und Berater voll und ganz auf den systemischen Prozess der Ideenfin- dung. In seinen Vorträgen, Ideenseminaren und Workshops begeistert er sein Publikum fürs »Querdenken«. Andreas Jacobs ist Vor- standsvorsitzender der Allianz deutscher De- signer, Deutschlands größtem Designerver- band. Andreas Jacobs arbeitet und lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern an der Nordsee in Wilhelmshaven.
WWW.ANDREASJACOBS.DE
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ES KOMMT
Spaß x 50 Beruf x 70 Arbeit x 17 Menschen x 70 Freude x 40 Beruf x 70 Liebe x 40
EIN TEXT VON NICOLA FRITZE
Wenn Sie lieben, was Sie tun, müssen Sie nie wieder arbeiten! Kennen Sie diese Situation im Flugzeug: Sobald die Fluggäste sitzen, verstecken sie sich gerne hinter einer Zeitung. Sofern es nicht per Video geschieht haben die Flugbegleiter dann die schwierige Aufgabe, diesen uninteressierten Menschen die Sicherheitsvorkehrungen zu erklären.
Foto: www.thinkstockphotos.com
AUF DIE
EINSTELLUNG AN
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Routiniert und mit aufgesetztem Lä- cheln zeigen sie, wo sich die Notausgänge be- finden, wie man den Sicherheitsgut schließt und wie man sich die Sauerstoffmasken auf- setzt. Ich habe immer Mitleid mit den Flug- begleitern. Versetzen Sie sich mal in deren Lage: Sie müssen da im Gang stehen, sehen 120 gelangweilte und gestresste Gesichter, die Sie mehr oder weniger ignorieren oder sogar mitleidig belächeln. Und Sie müssen gut gelaunt und kompetent vorturnen. Und zwar zweimal: deutsch und englisch!
Würde Ihnen diese Arbeit Spaß machen? Zum Glück gibt es Menschen, die diese Arbeit machen und ein noch größeres Glück ist es, wenn man Menschen trifft, die diese Arbeit sogar gerne machen.
Und genau das durfte ich vor ein paar Tagen erleben. Ich betrat das Flugzeug und wurde angelächelt. Und zwar vom Herzen angelächelt. Nicht dieses »Ich-muss-jetzt- Lä- cheln« – Lächeln. Nein, es war ein echtes, herzliches Lächeln. Es wurde sofort deutlich: Hier arbeitet ein Flugbegleiter, der seine Ar- beit liebt. Selbst als er die Sicherheitsvorkeh- rungen vorführte, wirkte er zufrieden und lä- chelte.
Damit gewann er meine Aufmerk- samkeit. Und nicht nur meine. Auch andere Fluggäste bemerkten, dass da jemand eine positive Ausstrahlung und Spaß an seiner Arbeit hat. Sie schauten ihm gerne dabei zu, wie er die Notausgänge zeigte. Als mir dieser Flugbegleiter später Getränke anbot, konnte ich mir die Bemerkung nicht verkneifen, dass er seine Arbeit offensichtlich gerne macht. Darauf antwortete er: »Arbeit? Ich liebe es zu fliegen und Menschen eine angenehme Zeit über den Wolken zu schenken.« Wow! Das ist natürlich etwas ganz anderes als ARBEIT.
Und was würden Sie sagen, wenn ich Sie fragen würde: Was tun Sie? Was lieben Sie an Ihrem Beruf? Gehen Sie Ihrer Beru- fung nach? Leben Sie Ihren Traumberuf oder haben Sie eher Albträume? Was motiviert Sie täglich, Ihrer Berufung nachzugehen? Das, was diesen Flugbegleiter von den meisten seiner Kollegen unterscheidet ist seine Ein- stellung zu seinem Beruf. Er empfindet es nicht als Arbeit.
Während er mir meinen obligatori- schen Tomatensaft eingoss erklärte er mir, dass er auch nie sagen würde, er müsse ar- beiten gehen. Er sagt »ich gehe heute flie-
gen« oder »ich fliege heute«. Und genau das ist es, was dieser Mann ausstrahlt. Er fliegt und bedient Menschen vom ganzen Herzen. Er arbeitet nicht. Und das ist es, was die Fluggäste an ihm schätzen, weshalb er Auf- merksamkeit bekommt.
Wie können Sie Ihre Arbeit noch mehr lieben?
• Machen Sie sich den Sinn Ihrer Arbeit bewusst: Wozu ist das gut was Sie täglich tun? Welchem höheren Ziel dient Ihre Arbeit?
• Erfreuen Sie sich an Details in Ihrer Arbeit. • Konzentrieren Sie sich auf das gute
Gefühl, wenn etwas erledigt ist.
• Tun Sie immer etwas mehr als das,
wofür Sie bezahlt werden.
• Arbeiten Sie an ihrem kontinuierlichen
Verbesserungsprozess
• Öffnen Sie Ihre Sinne, nehmen Sie
auch die Blumen am Wegesrand wahr.
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Der Maler, Dichter und Philosoph Khalil Gibran bringt es wunderbar auf den Punkt:
»Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe.«
»Wenn wir lieben, was wir tun, müs- sen wir nie wieder arbeiten.« Und wenn wir Freude haben an dem, was wir tun, dann sind wir kreativer und leistungsstärker und haben mehr Erfolg Tun Sie das, was Sie tun mit Hingabe und Begeisterung. Geben Sie Ihr Bestes. Wenn Sie Ihr Bestes geben ha- ben Sie mehr Freude und Erfüllung an Ihrer Arbeit, Sie sind zufrieden mit sich selbst und haben eine positive Ausstrahlung und Erfolg. Machen wir dieses Phänomen an einem Bei- spiel deutlich: Erinnern Sie sich an Ihre Schul- zeit. Mit welchem Gefühl sind Sie zur Schule gegangen, wenn Sie wussten, Sie hatten die Matheaufgaben nicht gemacht und Englisch nur zur Hälfte. Kein gutes Gefühl, oder?
Und wie sind Sie zur Schule gegan- gen, wenn Sie alle Hausaufgaben gemacht hatten? Wenn Sie also bei den Hausaufgaben Ihr Bestes gegeben hatten? War da nicht ein Funke Vorfreude, Zufriedenheit, vielleicht so-
gar Stolz in Ihnen? Dieses Hausaufgabenprin- zip gilt auch heute noch. Wir fu_hlen uns gut, wenn wir alles gegeben haben, es befriedigt uns. Wenn Sie sich nur zu 50 % einsetzen, leiden Sie mehr darunter als Ihr Chef oder Ihre Firma. Die Firma verliert ein paar Euro. Aber Sie verlieren Ihre Begeisterung und Ihre Selbstachtung.
Sie tragen die Verantwortung dafür, dass Sie leben während Sie arbeiten!
Geben Sie nicht deshalb Ihr Bestes, weil Sie andere beeindrucken wollen, sondern weil Sie dann mehr Freude und Erfüllung an Ihrer Arbeit haben können. Tun Sie es also für sich. Wenn man schon sehr lange in seinem Beruf arbeitet, vergisst man manchmal, was einen einmal so begeistert hat. Wir können unsere Liebe zum Beruf ähnlich auffrischen, wie die Liebe zu einem Partner.
Fragen Sie mal jemanden, wie er oder sie seine Partnerin bzw. seinen Part- ner kennengelernt hat. Und beobachten Sie diese Person genau, wenn sie antwortet. Die Menschen blühen meistens sichtbar auf, wenn sie das erzählen. Sie erinnern sich an diese wunderbare Phase der Verliebtheit und
bekommen auch im Moment der Erzählung gleich eine ganz andere Gesichtsfarbe, einen Glanz in den Augen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Paar auf irgendeine Art und Weise sich wäh- rend oder nach dem Erzählen berührt, wenn nicht sogar Zärtlichkeiten austauscht, ist sehr hoch. Es geht ihnen gut und sie erzählen ger- ne von diesem besonderen Moment in ihrem Leben.
Erinnern Sie sich an Ihre ersten Tage in Ihrem Beruf oder in dieser Firma? Alles war neu für Sie. Neue Kollegen, neue Aufga- ben. Das war wahrscheinlich auch etwas auf- regend. Was hat Sie damals begeistert? Was hat Ihnen Spaß gemacht? Welche Ideen und Ziele hatten Sie damals? Mit welchem Gefühl sind Sie morgens aufgestanden? Wie würden Sie über Ihre ersten Monate erzählen?
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Wenn Sie Ihre Arbeit wieder mehr lieben wollen, oder
wenn Sie jemanden dabei unterstützen wollen, dass er seine Arbeit wieder mehr liebt, stellen Sie folgende Fragen:
• Welche Tätigkeiten in meinem Beruf machen mir Freude?
• Was haben diese Tätigkeiten gemeinsam?
• Bei welchen Tätigkeiten kann ich meine Stärken und Talente
einbringen?
• Welche Tätigkeiten gehen mir leicht von der Hand?
• Inwiefern kann ich „ungeliebte Aufgaben“ delegieren?
Wem könnten diese Aufgaben vielleicht sogar mehr Spaß
machen als mir? Wem geht das leichter von der Hand?
• Was würde ich gerne tun, was ich bisher noch nicht tue?
• Welche Fähigkeiten würde ich gerne vertiefen oder
neu dazu gewinnen?
• Wo und wann will ich diese Fähigkeiten erlernen?
Wie sieht der erste Schritt aus, um mein Vorhaben umzusetzen?
Es liegt in Ihrer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Ihnen Ihr Beruf Spaß macht. Nur dann sind Sie kreativ und erfolgreich. Sie haben es in der Hand, die Dinge zu ändern, die Sie ändern können. Entscheiden Sie sich zu handeln, anstatt andere dafür verantwortlich zu machen, dass Sie nicht zufrieden sind. Stellen Sie sich immer mal wieder die Frage: Arbeite ich, um zu leben oder lebe ich, um zu arbei- ten? Sie tragen die Verantwortung dafür, dass Sie leben während Sie arbeiten! Zögern Sie nicht, selbst aktiv zu werden, denn Sie könnten kostbare Zeit verlieren. Und das Leben ist zu kurz für ein langes Ge- sicht. Machen Sie es wie der Flugbegleiter: Lieben Sie, was Sie tun, zeigen Sie auch anderen, dass Sie Spaß an Ihrem Beruf haben und heben Sie ab.
Über Nicola Fritze:
Nicola Fritze ist seit 2001 eine ge- fragte Referentin und Trainerin rund um das Thema Persönlichkeitsentwicklung und Kom- munikation. Sie gehört zu den »Top 100 Ex- cellent Speakers« in Deutschland, Österreich und in der Schweiz und ist Mitglied bei der German Speakers Association. Sie gehört zu Deutschlands Podcast- Pionieren und veröf- fentlicht seit 2006 regelmäßig Hörsendungen (Podcasts) im Internet. Mit ihrem Podcast »Abenteuer Motivation« und dem »Fritze- Blitz« erreicht sie über 30.000 Hörer, die sich zum Thema Motivation und Persönlichkeits- entwicklung regelmäßig von ihr inspirieren lassen. Es sind die erfolgreichsten deutsch- sprachigen Podcasts zum Thema Motivation und Persönlichkeitsentwicklung.
HTTP://WWW.NICOLAFRITZE.DE
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TYPOGRAPHIE DENKEN
»Ich muss das nicht gelesen haben, um es gut zu gestalten.«
(UNBEKANNTER GRAFIKER)
VON JOHANNES STEIL
In der Rhetorik heißt es: »Wenn man ein Problemlösungs- gepräch führen will, braucht man ein Problem.«
Das ist längst nicht so trivial, wie es zunächst klingen mag. Denn man – die am Gespräch beteiligten – muss nicht irgendein Pro- blem haben, sondern alle müssen das gleiche Problem haben, sie alle müssen es als Problem erkennen oder wenigstens die Bereitschaft haben, das für den Anderen Problematische zu erkennen. Oft fehlt Auftraggebern – ob externen oder Vorgesetzten – dieses Verständnis. Und so ist von ihnen eine Anweisung zu hören, wie ein Entwurf geän- dert werden soll anstelle einer Beschreibung dessen, was ihnen nicht gefällt. Da ist dann, wenn das Ziel nicht offensichtlich ist, mit pas- sender Einfühlung nachzufragen, was ihr Problem ist, was mit dieser Änderung erreicht werden soll. Oft genug liegt die Lösung im gegen- teiligen Verfahren des zunächst verlangten. Hans Peter Willberg hat das schön beschrieben: »Der Text […] sei nicht gut genug lesbar, ich solle ihn größer machen, wurde mir aufgetragen. Ich habe die Schrift etwas kleiner gemacht und den Zeilenabstand im Verhältnis vergrö- ßert […]«1 Man war zufrieden.
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Und das ist die erste große Aufga- be: die Analyse des Gegenstandes. Da wird aus dem Auftrag »Buchgestalten« ein ganzer Fragenkomplex. Was für ein Buch ist es, wer liest es warum, wie wird es gelesen – von vorne nach hinten am Stück, oder schlägt man ein einzelnes Stichwort nach, will man mehr über einen bestimmten Sachverhalt wissen, liest also nur einen Teil intensiv, oder soll je- mand zum Lesen verführt werden? Hans Pe- ter Willberg und Friedrich Forssmann haben in ihrem Werk Lesetypographie eine »Syste- matik der Buchtypographie« aufgestellt mit verschiedenen Arten von Typographie für acht Lesearten.2 Diese Lesearten gelten in jeweils eigener Art auch für alle anderen typogra- phischen Aufgaben, sie wurden jedoch noch nicht systematisiert. Immer muss analysiert werden, was zu lesen ist, wer es liest, war- um es gelesen wird und was die Umstände des Lesens sind, welche anderen Reize da sind und ablenken können – und auch, in wel- cher Verfassung mit welcher Motivation ge- lesen wird. Wer lesen will, der nimmt mehr Erschwernisse in Kauf: der Fan liest auch den weißen Text auf buntem Hintergrundbild, ge- setzt in einer Serifenschrift mit 6 Punkt im CD-Booklet. Ähnlich der Wissenschaftler, der sich durch vieles durchkämpft, ohne dass das
Lesenwollen so recht vom Lesenmüssen zu unterscheiden ist, dem dieser Kampf aber er- leichtert wird durch die Gewohnheit – trotzdem gilt: Wissenschaft muss nicht weh tun, selbst ein Bibliothekskatalog kann lese-, also benut- zerfreundlich übersichtlich gestaltet werden.
»Ich muss das nicht gelesen
haben, um es gut zu gestalten.«
Am anderen Ende der Größenskala stehen die Orientierungssysteme im Raum, oft genug auch am anderen Ende der Motiva- tionsskala. Kurz vor Zugabfahrt in einem frem- den Bahnhof in einem Land, dessen Sprache man kaum beherrscht oder bei einem Notfall im Krankenhaus, da will man nicht lesen, da will man sofort und ohne jegliches Zögern und Zweifeln zum Zug oder in die Notaufnah- me geleitet werden.
Doch selbst diese beiden kleinen Sze- nen sind grundverschieden, im Bahnhof wie auch auf Flughäfen gibt es eine unermess- lich größere Zahl an konkurrierenden Reizen durch mehr Menschen, die umherlaufen, und vor allem an anderen Schildern, Tafeln, Rekla- mebotschaften – da helfen nicht allein beson- ders gut lesbare Schriften in richtiger Größe und mit optimalem Kontrast. Ebenso müssen
die Wegweiser und Hinweisschilder gut zu finden, auf den ersten Blick unterscheidbar sein von anderen, ob durch räumliche Tren- nung wie auf dem Amsterdamer Flughafen Schipohl oder durch eine besondere Form- gebung wie auf dem Flughafen von Porto. Dabei greift die Typographie auch auf andere Bereiche über, verbindet sich mit Architektur sowie mit anderen Designsparten. Über die typographische Stimmung sagt das nichts, sie kann auf einem Flughafen genauso ver- suchen, die Urlaubsvorfreude zu visualisie- ren, wie Intégral Ruedi Baur es für Köln Bonn Airport gemacht hat. Im Krankenhaus ist man nicht freiwillig, auf der panischen Suche nach der Notaufnahme wird neben einer eindeuti- gen, simplen und möglichst leicht verständli- chen die Typographie und Ikonographie eine beruhigende Wirkung Ziel sein.
Andere Orientierungssysteme richten sich an häufige Besucher mit mehr Ruhe – und da kann sogar die Lesbarkeit der verwandten Schrift eine untergeordnete Rolle spielen und die Persönlichkeit der Institution in den Vordergrund treten wie bei der Cité internationale universi- taire de Paris (von Intégral Ruedi Baur) – dort werden in der Schrift lateinische Zeichen durch ähnlich aussehende anderer Schriftsystem er- setzt, je größer die Schrift, umso häufiger.
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Neben objektiven Kriterien spielen immer auch subjektive Vorlieben und Abneigungen eine Rolle. Zu den objektiven Kriterien, die Ziel der Analyse der Aufgabe sind, gehört nicht die Lesbarkeit. Die Untersuchungen zu diesem Thema sind bei aller Mühe nicht wissen- schaftlich, viel zu viele Parameter sind unbestimmt und von individu- ellen Voraussetzungen beeinflusst. Vieles andere jedoch ist einfach festzustellen und bestimmt die Richtung der Lösung.
Zurück zu den kleinen Dingen, zu den Büchern und ähnlichen Drucksachen. Als erstes ist die Textmenge festzustellen und dann die Struktur des Textes, seine Strukturierung durch Kapitel und Unterka- pitel, durch Abschnitte und Absätze wie auch die interne Differen- zierung: kursive Passagen, gewünschte und notwendige Auszeich- nungen, Zahlen und Ziffern, andere Schriftsysteme, Bebilderung, Grafiken, Tabellen. Das kann bis hin zu einzelnen Zeichen gehen: bei einem Buch über die Quäker wird man besonderen Wert auf das Q legen, was bei einem allgemeinen Religionslexikon schon keine be- sondere Rolle mehr spielt. Doch die Schriftdetails dürfen nicht isoliert betrachtet und überbetont werden, entscheidend ist der Gesamtein- druck der Schrift in der Kolumne.
Gegebene Zeichenzahl und vorgesehener Umfang geraten bei Beachtung üblicher Textgrößen oft in Konflikt, meistens hat man zu viele Zeichen für zu wenig Seiten, aber andersherum ist nicht ein- facher. Ein wenig – oder bei schwach strukturierten Texten auch er- staunlich viel – lässt sich über die Wahl einer schmaler laufenden Schrift ausgleichen, oft ist aber das Gespräch mit Autoren, Redaktion oder Vertrieb (für einen größeren Umfang und damit höheren Preis) zu suchen.
Zu den objektiven Kriterien gehören auch Zielgruppe (obwohl deren Bestimmung wiederum eine Pseudowissenschaft ist) und Me- dium und Präsentationsform: Wer häufig und viel liest, der hat die notwendige Übung, auch lange Zeilen unter schlechten Bedingungen zu lesen, wie man täglich in S- & U-Bahnen bei den Schmökern sieht, die allen Faustregeln der Lesbarkeit widersprechen. Andere Regeln gelten für unruhige Umgebungen wie Ausstellungen, wo wiederum zwischen der ersten Orientierung im Raum, einführenden Tafeln und den Beschriftungen der einzelnen Objekte unterschieden werden muss. Hier müssen nicht zuletzt die unruhige Umgebung und das Lesen im Stehen bedacht werden.
Aus den so festgestellten Elementen ergibt sich keineswegs automatisch eine Gestaltung, alle Behauptungen wie »Die Typogra- phie ist die Kunst, von sich selber abzusehen« (Kurt Weidemann) sind einfach Unfug und nichts als aufgeblasene Pseudobescheidenheit. Jede Gestaltung ist Interpretation, in der Architektur wie in der Typo- graphie wie auf dem Theater. Es geht weniger darum, überkommene Regeln zu befolgen als vielmehr darum, zu wissen, welche Folgen welche Entscheidung hat. Man muss sich nur entscheiden, wie man interpretiert:
Will ich eine klassische Erscheinung, die (fast) so auch ein- oder dreihundert Jahre alt sein kann?
Will ich ganz von heute sein auf die Gefahr hin, schon nächste Woche uninteressant zu sein?
Oder vielleicht zeigen: ich kenne die Geschichte der Gestaltung und interpretiere die klassischen Elemente
auf eine zeitgemäße Art?
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Für alle Formen muss man die ver- schiedenen Formensprachen nicht allein in der Schriftgestaltung kennen, die Schriftwahl unterliegt nicht allein technischen, sondern auch inhaltlichen Kriterien. Die DIN-Klassifi- kationen sind keine Hilfe, die brauchen nur Historiker und andere Nerds. Es geht um an- dere Trennlinien: dynamisch – statisch – geo- metrisch einerseits, die Spuren der Schreib- werkzeuge Schurzugfeder, Wechselzugfeder und Spitzfeder andererseits. Als drittes noch die Behandlung der Strichenden: ohne oder mit Serifen sowie deren Formung und Beto- nung.
Die Schriftwahl wird genauso von der anderen Seite bestimmt, von der Leserschaft und ihren aus Gewohnheit und Erfahrung ge- wachsenen Erwartungen. Auch wenn die we- nigsten sagen können, um welche Schrift es sich bei einem Beispiel handelt, viele nicht einmal zwischen Schriften mit Serifen und solchen ohne unterscheiden können – die Erfahrung schafft immer Konnotationen, ob bewusste oder unbewusste. Es gibt Schrif- ten wie die Garamonds, mit denen eigentlich alles in Büchern geht, weil schon alles damit gesetzt wurde. Aber die meisten Schriften haben eine eingeschränkte Verwendbarkeit. So kann dann auch die von der Autorin ge-
wünschte Bodoni – »weil sie mir so gut ge- fällt« – die richtige für einen Liebesroman sein. Wenn nämlich die Geschichte der Liebe zwischen dem angejahrten, trockenen Biblio- thekar und der blutjungen, knackigen Friseu- se genauso verläuft wie man es von diesem Klischee erwartet. Oder die neue Hausschrift der Deutsche Bahn AG, die die Helvetica er- setzt – ist sie gut, weil sie dem Verhältnis des DB-Managements zur Kundschaft hervorra- gend Ausdruck verleiht oder ist sie misslun- gen aus eben diesem Grund, der geringen Funktionalität, die die Leserschaft fast ver- achtet? In den entscheidenden Anwendungs- fällen wie Fahrplänen verliert sie gegen die Helvetica, da die Buchstaben keine kohä- rente Formensprache haben. So fragt man sich unter anderem immer wieder, was die- ser winzige beschädigte Doppel-T-Träger bei der Angabe »Mo–Fr« soll – ach, das ist das kleine r, das Serifen hat; Serifen, die größer und wichtiger sind als alles andere an diesem Buchstaben, vor allem deutlicher als genau das, was ein kleines r auszeichnet, nämlich die Fahne, Serifen in einer ansonsten seri- fenlosen Schrift. Daran sieht man nebenbei, dass man auch dem von den Schriftgestaltern und -herstellern vorgesehenen und angege- benen Verwendungszweck nicht blind ver-
trauen darf; und dass die Details einer Schrift ihren Charakter verleihen.
Aus diesen Überlegungen zu Ziel- gruppe und Anspruch, zu Schriftwahl und -charakter folgt ein Satzspiegel, folgt die Be- stimmung von Größen und Abständen, wo- bei zwischen diesen Elementen vielfältige Abhängigkeiten bestehen und eine Änderung an der einen Stelle eine Änderung an anderen Stellen zwangsläufig nach sich zieht – hier hilft Denken allein nicht weiter. Es müssen Probeausdrucke in Originalgröße her, egal was die Professorin sagt, die seit Jahren kein einziges ihrer Layouts mehr ausgedruckt hat. Die Wirkung lässt sich nur bedingt vorstellen, es geht um die Wirkung im Zielmedium. Und es muss Gefühl dabei sein.
Das Zielmedium ist nicht zu unter- schätzen. Schon der Unterschied zwischen dem matten, weißen Papier im Laserdrucker und dem matt gestrichenen Bilderdruckpapier ist deutlich sichtbar. Mit getönten Papieren, anderen Oberflächen und anderen Druckver- fahren gibt es weitere Einflussfaktoren. Typo- graphie ist nicht nur das Schwarz der Schrift, sondern ebenso das Weiß in, zwischen und um die Zeichen. Diese Beziehung zwischen Schrift und Untergrund bestimmt die Farbig- keit der Seite im Sinne von Grauwert, Kont-
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rast, Flächenwirkung. Ändern sich die Farben von Schrift oder Untergrund, ändert sich auch die Wirkung der Schrift.
Bei Bildschirmen und Leuchtkästen ändert sich noch viel mehr, es sind nicht nur die Überstrahlungen zu beachten. Wird ein Produkt gleich für mehrere Medien geplant, wird eine Schriftwahl noch viel schwieriger. Was auf Papier überzeugt, muss noch lange nicht am Bildschirm funktionieren. Webfonts sind in der Regel keine Lösung außer für Über- schriften. Sie sind nicht für die Bildschirmdar- stellung optimiert, sondern beschreiben nur eine technische Möglichkeit, Schriften darzu- stellen, ohne sie auf dem Rechner, der den Bildschirm ansteuert, installiert zu haben. Über die Bildschirmdarstellungsqualität sagt das nichts. Diese benötigt eine Unmenge zu- sätzlicher Arbeit, die entsprechend zu hono- rieren ist über höhere Preise für die Fonts.3
Es muss Gefühl dabei sein beim Ty- pographie Denken, denn es geht um letzt- lich willkürliche Entscheidungen. Auch wenn es für jede einzelne Entscheidung eine rati- onale Begründung gibt, könnte es ein ande- rer Aufbau sein, wäre eine andere Farbigkeit ebenso passend wie eine andere Schrift. Es gibt in der Typographie nicht die eine richtige Lösung, es gibt passende und unpassende
Lösungen. Eine passende Lösung ist eine, bei der Stimmung und Aussage des Inhalts eine Entsprechung in der Typographie finden, sei es eine harmonische und verstärkende Entsprechung, sei es eine aufregend andere oder gar verstörende. Um gute Typographie zu machen, muss man lesen. Auch lesen.
Lesen sollte verstanden werden nicht einfach als die passive Aufnahme von Wörtern, sondern im Sinn des Durchdringens des Gegenstandes, der Erkenntnis der Kern- aussage. Gute Typographie ist eine Entspre- chung dieser Aussage, verschafft ihr einen passenden Ausdruck. Ohne Lesen in diesem Sinn kann Typographie bestenfalls schön sein, dekorativ – aber nicht gut.
Außer dieser Kopfarbeit bedarf es dann noch der Handarbeit der schwarzen Kunst und der Phantasie, um nicht das im- mer gleiche zu machen, um weder in falsch verstandener Tradition zu versteinern oder in sturer Befolgung der Regeln in der tödlichen Langeweile der Raster zu erstarren.
Mit jedem neuen Projekt muss man immer wieder ganz von vorne anfangen, lesen, vor- und nachdenken, ganz von vorne anfangen, ohne die Erfahrungen zu vergessen. •
Zum Autor
Johannes Steil studierte Politik- wissenschaft, Philosophie und Geschich- te in Kassel und Hamburg, er arbeitet seit 1996 als Grafikdesigner mit dem Schwer- punkt Buchgestaltung und Typographie.
1 Aus: Hans Peter Willberg: Der ver- tikale Keil, in : ders.: Typolemik. Streiflichter zur Typographical Correctness, Mainz 2000, S. 122.
2 Hans Peter Willberg, Friedrich Forss- mann: Lesetypographie, Mainz 1997. Sie un- terscheiden folgende acht Lesearten: lineares Lesen, informierendes Lesen, differenzierende Typographie, konsultierendes Lesen, selektie- rendes Lesen, Typographie nach Sinnschritten, Aktivierende Typographie und Inszenierende Typographie.
3 Bei Linotype werden die für den Bildschirm optimierten Schriften mit dem Kür- zel XSF gekennzeichnet, derAbkürzung für eX- cellent Screen Fonts, bei FontShop mit dem Kürzel Offc für Office.
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DENKEN
MARIO
PRICKEN
Videointerview unter
WWW.DESIGNMADEINGERMANY.DE/2011/21464

IM INTERVIEW
Mario Pricken arbeitet als Innovation Director und Consultant für Marketing- abteilungen internationaler Unter- nehmen, namhafter Agenturen, Designfirmen und Fernsehstationen.
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Videointerview unter
WWW.DESIGNMADEINGERMANY.DE/2011/21464
Kaum jemand anderes ist so gefragt, wenn es um Ideen- management oder neue Kreativitätstechniken geht. Er ist unter anderem Autor der Bücher »Kribbeln im Kopf« (Verlag Hermann Schmidt Mainz) und »Clou« (Verlag Hermann Schmidt Mainz). Wir haben Mario Pricken zum Video-Interview rund um Denken gebeten.
WWW.MARIOPRICKEN.COM
Das Interview führte Florian Geiger. Post-Produktion: Martin M. Rosskopf Kamera: Alexander Weiß
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Why are we born? Why do we die? Why do we spend so much time in between wearing digital watches?
DOUGLAS ADAMS, 1979
An der Frage nach Leben und Tod haben sich unzählige Philosophen und Theo- logen abgearbeitet; um die dritte Frage soll es in diesem Beitrag gehen, auch wenn in- zwischen – mehr als dreißig Jahre nach Dou- glas Adams’ »Hitchhiker’s Guide to the Ga- laxy« – die digitalen Armbanduhren durch Smartphones ersetzt wurden. Armbanduhren beschränken sich auf die eine Funktion der Zeitangabe. Da Sir Ken Robinson aber ein- werfen mag, »It tells the date as well!« [TED 2010, http://www.ted.com/talks/view/id/865], und man sich an einige Exemplare erinnert, die auch eine Stoppuhr und einen Taschen- rechner besaßen, lässt sich hier die Frühge- schichte der Smartphones beobachten. Wer oder was ist hier aber smart? Der mobile
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VON MATTHIAS MÜLLER-PROVE /
WWW.MPROVE.DE
Computer, der unbeschränkte Möglich-keiten verheißt – oder der Nutzer, der sich davon ei- nen unbeschränkten Zugang zum Wissen der Welt verspricht?
Es ist letztlich die Frage nach der Be-
ziehung zwischen Mensch und Maschine. Die
Erfindung der Dampfmaschine löste im 18.
Jahrhundert die Industrialisierung aus. Seit- her konnte in den Fabriken immer mehr und günstiger produziert werden, und die Hand- werker wurden zu Bedienern der Ma-schinen. Computer sind eine spezielle Form von Auto- maten, die nicht mit Hebeln und Motoren die Muskelkraft vervielfachen, sondern mit Chips und Bytes die geistigen und kommunikativen Fähig-keiten des Menschen potenzieren und erweitern können.
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WELT DES
DIGITALEN
WISSENS

Computer sind darüber hinaus auch ein Medium, sogar ein universelles Medium, da durch die Software immer neue Eigen- schaften und Funktionen angeboten werden und versucht wird, alle vo-rausgegangenen Medien nachzubilden. Dazu nur ein paar Bei- spiele: Die Schreibmaschine wurde durch Textverarbeitung auf dem Computer abge- löst. Das Tagebuch bildet die Vorlage für das Bloggen. Das Telefonsystem wurde zunächst in den Vermittlungsstellen digitalisiert und erfährt nun durch VoIP (Voice over Internet Protocol) und Videochat seine nächste Wand- lung. Diavorträge wurden zu Slideshows, Fo- toapparate zu Digicams und LPs zu MP3s. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Allen gemein ist aber, dass vormals analoge Medi- en durch die Digitalisierung ihren Charakter verändern und damit auch die Art und Weise, wie wir mit den neuen Medien umgehen.
Ihrerseits beeinflussen die digitalen Medien das Denken und damit den Wissens- erwerb. Sie sind geradezu dafür prädestiniert, dass aus der Interaktion zwischen Menschen mit und mittels des Computers neue Erkennt- nisse und Einsichten entstehen können.
Ein kurzer Blick auf die Geschichte des Computers zeigt, dass dieses Leitbild schon recht früh for-muliert wurde. So er-
schien 1945 im Atlantic Monthly der Artikel »As We May Think« [http://www.theatlantic. com/magazine/archive/1945/07/as-we-may- think/3881/], in dem Vannevar Bush das Sys- tem Memex skizzierte. Memex war die Idee eines auf Mikrofilm basierenden Auto-maten, der einem Wissenschaftler bei der Lektü- re von Fachartikeln unterstützen sollte. Aus heutiger Sicht liest sich der Text wie ein vor- weggenommenes Gesamtkonzept für Adobe Reader, Google Books und Hypertext in ei- nem – insbesondere da sich die Navigation an assoziative Gedanken-sprünge anlehnt, in- dem miteinander in Beziehung stehende Arti- kel mit einem gemeinsamen mne-monischen Code versehen würden. Voilà, die Urform des Tagging!
Mit der Einführung des Begriffes »Knowledge Worker« bezeichnete Peter Dru- cker 1959 explizit den Umgang mit Informa- tionen als wichtigste Tätigkeit in modernen Unternehmen. Ein Jahr später bezog dann Joseph Licklider in »Man-Computer Symbi- osis« erstmals eine systemische Position, indem er einem General auf dem Schlacht- feld zur schnellen Entscheidungsfindung ei- nen Computer zur Seite stellen wollte. Und 1963 begann Douglas Engelbart am Stanford Research Institute sein fundamentales For-
schungsprojekt »Augmenting Human Intel- lect« auf dessen Höhepunkt im De-zember 1968 der staunenden Fachöffentlichkeit NLS vorgestellt wurde. Maus, interaktives und kollaboratives Bearbeiten von Hypertexten am Bildschirm, E-Mail, und Videokonferenz waren ra-dikale Neuerungen, die die Visi- on einer produktiven Interaktion zwischen Menschen und Computer in greifbare Nähe rückten. Eine Videosuche nach »Mother of all Demos« führt zu vierundsiebzig atemberau- benden Minuten.
Die Weiterentwicklung hin zum PC fand dann in den 1970er Jahren am For- schungslabor Xerox PARC statt. Dort be- stimmte Alan Kay die Agenda und propagier- te in »A Personal Computer for Children of All Ages« den Paradigmenwechsel hin zum individuellen Umgang mit einem Computer [http://mprove.de/diplom/gui/kay72.html]. Die heute üblichen Desktop- und Laptop- Computer funktionieren noch immer nach dem gleichen Schema wie ihre Vorgänger am PARC: Desktop-Metapher mit Fenstern, Icons und Menüs bilden die Oberfläche, die mit der Maus oder einem Trackpad bedient wer- den. Allerdings sind die Anwendungen um ein vielfaches komplexer geworden. Durch die globale Vernetzung der Systeme mittels
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des Internet hat sich der Informationsaustausch über das World Wide Web ab Mitte der 1990er Jahre zum integraler Bestandteil der tägli- chen Arbeit entwickelt. Da scheint es überfällig, dass einige Interakti- onsprinzipien überdacht und weiterentwickelt werden sollten.
1.
An interface is about hiding complexity from the user.
It’s about guiding a process, without cognitive understanding of what goes on beneath. Interface design is the art of enveloping the observer in an enticing, »try this« exploration with ever-new elements and designs as the tools to triumph in new territories.
KAI KRAUSE, 1996
Has the violin a good human interface? It’s a great interface! It produces wonderful music! It is not an easy inter- face. Why should an interface be easy? In fact I never found one that was.
IVAN SUTHERLAND, 2011
User Experience umfasst gemäß ISO 9241-210 alle Wahrneh- mungen, Gefühle und Annahmen eines Nutzers, die mit der Nutzung oder geplanten Nutzung eines Produkts, Systems oder Services zu- sammen hängen [Übersetzung vom Autor]. Man kann folglich als De- signer die User Experience nicht direkt gestalten, sondern lediglich beim Entwurf der Benutzungsoberfläche und des Funkti-onsumfangs darauf achten, dass der Anwender später eine positive User Experi- ence erlebt.
Auch wenn wir es gerne anders hätten, der Homo Sapiens ist kein rein rationales Wesen. Zu komplex sind Gedanken und Vor-
stellungen, die einem Anwender bei der Nutzung eines Programms durch den Kopf gehen. Er versucht zwar ständig die Anzeigen vom Bildschirm in ein konsistentes mentales Modell einzuordnen. Aber Hektik und Zeitnot vereinfachen die Lage nicht. Vermeintlich klare Hinweise zur korrekten Nutzung werden überlesen oder falsch inter- pretiert, so dass sich An-wendungsfehler häufen. Das Fehlen einer Undo-Funktion schmerzt dann doppelt. Noch mehr Stress und Frust sind die Folge.
Das Gegenteil dieser negativen Erfahrungen, die uns alle tag- täglich begleiten, ist eine souveräne und selbstverständliche Nutzung der Anwendung; der Computer wird zum Werkzeug und führt die ein- gegebenen Kommandos zügig und korrekt aus. Die Handhabung des Computers sollte dem An-wender so vertraut sein, wie einem Mu- siker sein Instrument. Er muss nicht lange überlegen, wie er es zu bedienen hat und kann sich stattdessen gänzlich auf den Inhalt kon- zentrieren.
Nur ein Computer oder Smartphone mit einem Satz von An- wendungen, die den Nutzer bei seiner eigentlichen Tätigkeit nicht irri- tieren und damit die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, kann zu einem zuverlässigen Begleiter werden. Mehr noch: ein System, das man gerne benutzt – Stichwort »Joy of Use« –, führt zu einem entspann- ten Arbeiten und damit meist auch zu besseren Ergebnissen.
Damit dies gelingen kann, ist der Nutzungskontext von An- fang an in die Gestaltungsphase mit ein-zubeziehen. Der Designer muss verstehen, wie die Anwendungen genutzt werden sollen. Wer sind die Anwender? Welche verschiedenen Nutzerperspektiven gibt es? Was ist die Vorerfahrung des Anwenders und damit seine Erwar- tungshaltung? Welche Aufgaben sollen unterstützt werden? Welche sonstigen Tools werden eingesetzt? Für welche Geräte wird gestal-
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tet? Welche Ein- und Ausgabe-Devices sind vorhanden und sind die- se für den Nutzungskontext geeignet? All diese Fragen werden im User-Centered Design Prozess behandelt. Dabei ist es von zentraler Bedeutung zusammen mit den späteren Anwendern die Eigenschaf- ten des Produktes zu definieren. Teils ergeben sich die Einsichten aus direkten Gesprächen und Interviews – zu einem erheblichen Anteil sind die wichtigen Parameter aber den Anwendern selbst nicht be- wusst, da sie Fachleute in ihrer Domäne sind, jedoch keine Experten im Bereich der Anforderungsermittlung.
Daher sei angeraten neben dieser gesprächsorientierten Pha- se zusätzlich beobachtende Methoden einzusetzen, um Aspekte des Anwendungskontextes noch besser zu verstehen. Site-Visits, Job- Shadowing und iteratives Testen von Designkonzepten und Prototy- pen sind der Weg zu benutzbarer Software.
2.
The computer revolution hasn’t happened yet.
ALAN KAY, 1997, 1998, 2000, 2002, 2004
Zwischen der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Let- tern durch Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts und der Herstellung von handlichen Büchern durch den Italiener Aldus Manu- tius vergingen gut hundert Jahre. Durch Manutius wurden Bücher er- schwinglich und transportabel, sodass sie sogar in Satteltaschen auf Reisen mitgeführt werden konnten. Erst beide Entwicklungen zusam- men lösten eine kulturelle Umwälzung aus, in der zahlreiche Men- schen das Lesen und Schreiben lernten. Luthers Bibelübersetzung ins Deutsche ist ein frühes Beispiel dafür, dass nun auch der Inhalt in einer Form angeboten werden konnte, der vorher nur von weni-
gen lateinsprechenden Geistlichen und Gelehrten verstanden wurde. Wissen wurde demokratisiert, indem es vielen Menschen zugänglich wurde. Aufklärung und Französische Revolution zum ausgehenden 18. Jahrhundert waren die Folge.
Beim noch jungen Informations- und Kommunikationszeital- ter ist die Entwicklung noch viel näher beim Techniker »Gutenberg«; und es ist höchstens in Anfängen zu erahnen, welche Auswirkungen das neue Medium noch haben wird. Kaum dreißig Jahre sind seit Ein- führung des Apple Macintosh vergangen, der mittels einer grafischen Oberfläche den Zugang zu Computern auch Nichttechnikern ermög- lichte. Unmittelbare Folge war die Desktop-Publishing-Revolution. In den 1990er Jahren folgte dann mit dem World Wide Web auch ein gra- fische Zugang zum Internet. Datenautobahn und »Information at your fingertips«, Online Shopping und Suchmaschinen prägen das junge Medium. Das derzeit propagierte mobile Internet führt uns wieder zu den eingangs erwähnten Smartphones. In vielen Teilen der Erde be- deuteten die dafür notwendigen drahtlosen Verbindungen überhaupt den Erstzugang zum weltweiten digitalen Informations- und Kommu- nikationsnetz.
Die digitale Revolution besteht aus drei Aspekten: a) die tech- nische Infrastruktur der Netze, b) das Design der Software und die Gestaltung der Inhalte, und c) aus den Inhalten selbst. Dabei kommt den Software-Designern die Aufgabe und Verantwortung zu, einer- seits die Anwendungen so verständlich zu gestalten, dass sie gut bedienbar sind, und andererseits die Angebote im Netz so zu struk- turieren, dass die Informationen vom Nutzer sinnvoll aufgenommen werden können. In diesem Sinne war der venezianische Buchdruck- meister Aldus Manutius ein früher Vertreter der Zunft der User-Cen- tered Designer.
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Genau wie bei der Gutenberg’schen Medienrevolution muss der Umgang mit den digitalen Medien neu gelernt werden, um die Möglichkeiten sinnvoll einsetzen zu können. Entertainment und Mi- cro-News sollten dabei nicht den Blick für die wesentlichen Inhalte verstellen. Sonst besteht die Gefahr in der Datenflut unterzugehen; oder, wie Neil Postman noch zu Hochzeiten des Massenmediums Fernsehens formulierte, »we are overnewsed but underinformed«.
Informationen werden im Computer durch Nullen und Ein- sen repräsentiert. Aber es sind die Men-schen vor den Bildschirmen, die die Informationen bewerten und strukturieren, und die erstmals in der Geschichte ihrerseits die Möglichkeit haben, ihre Meinungen und Einsichten in Blogs oder Sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. Durch deren chaotisch-kooperatives Zusammenwirken wachsen bei- spielsweise auch Social-Bookmarking Sites oder Portale wie Wikipe- dia. Gefragt sind Tools, die solche flexiblen Kooperationen ermögli- chen, um gemeinsam zu Diskutieren und die digitale Informationsflut zu bändigen. Angesichts der globalen Probleme der Menschheit hält Doug Engelbart eine Co-Evolution des Mensch-Computer Systems für notwendiger denn je. Er versteht darunter eine wechselseitige Fortentwicklung von Mensch und Technik, die die Kompetenzen bei- der Seiten verstärkt. Im Laufe der Entwicklung profitiert der Mensch zunehmend, da er lernt den Computer als persönliches Ausdrucks- medium seiner Kreativität einzusetzen. Die weltweite Vernetzung der Systeme verspricht einen kollaborativen globaler Diskurs.
Ob der gegenwärtige Stand der sozialen Netzwerke bei der Lösung der drängen Fragen der Welt nützlich sein werden, kann al- lerdings bezweifelt werden. Komplexe Fragestellungen oder gar de- ren Beantwortung, passen nicht in 140 Zeichen. Die Activity-Streams
von Twitter, Facebook, Google+, Xing und Co. bilden nur das digitale Rauschen, aus dem vielleicht die Essenz für neues Wissen ge-filtert werden kann. Wie ein guter Handwerker müssen wir dafür lernen mit den Werkzeugen, die der Computer und das Internet anbieten, umzu- gehen; oder wir müssen uns besser geeignete Tools entwickeln.
Die Antwort auf Douglas Adams’ Frage »nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest« lautet bekanntermaßen »42«. Das sei ein Menetekel für eine sorgfältige Formulierung der Frage, ehe man den Computer einsetzt. Da Alan Kay zuletzt 2004 einen Vortrag unter dem Titel »The computer revolution hasn’t happened yet« gehalten hat und die Auswirkungen auf das politische und ge- sellschaftliche Leben schon deutlich wahrzunehmen sind, darf man behaupten, dass wir uns derzeit mitten in der digitalen Revolution befinden. •
42
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GENDER
CALLING
PRINZESSIN LILLIFEE
SOFTAIR GEWEHR
Die Geschlechterforschung hat innerhalb der letzten Jahre auch im Design mehr und mehr an Bedeutung gewonnen. Warum verhalten sich Mädchen wie Mädchen, warum spielen sie lieber mit Puppen als mit Autos und ist das überhaupt so?
Wie viel Anteil an der Akzeptanz hat hier die Gestaltung des Kinderspielzeugs? Oder aber die Gesellschaft? Und kann man diesen fest- gefahrenen Strukturen noch entgegenwirken? Mit diesen und anderen Fragen befasste sich Dominique Esser in Ihrer Diplomarbeit im Fach »Gender and Design« an der KISD in Köln.
Wir veröffentlichen einen Auszug ihrer Arbeit.
Fotografie: Enrico Aderhold
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Warum gibt es Spielzeugwaffen eigentlich nur für kleine Jun- gen und nicht für kleine Mädchen? Ist Wut vielleicht eine Emotion, die exklusiv Männern vorbehalten ist? Waffen sind doch der Inbegriff von Wut und Aggression und sie haben ein deutlich maskulines De- sign: Sie sind dunkel und eckig. Irgendwie klar, dass sie damit für kleine Mädchen wenig interessant sind.
Für mich stand also fest, eine Waffe für kleine Mädchen muss- te her. Aber es sollte eine sein, die den gestalterischen Ansprüchen dieser Zielgruppe entspricht. Das Ergebnis meiner Überlegungen: Das Prinzessin Lillifee Softair Gewehr (54 cm), die Waffe für kleine Mädchen ab 3 Jahren.
Der hier gezeigte Prototyp und weitere die folgen werden, sind Ergebnisse meiner Diplomarbeit, die ich im Lehrgebiet Gender und Design bei Prof. Dr. Uta Brandes an der Köln International School of Design geschrieben habe. Bei einigen Leserinnen und Lesern wirft das vermutlich schon die ersten Fragen auf, beispielsweise was ge- nau Gender eigentlich ist oder aber warum Gender für Design über- haupt in irgendeiner Form relevant ist.
Über die Relevanz von geschlechtlicher Reflexion in der Gestaltung
In der Forschung wird der englische Begriff »Gender« dem deutschen »Geschlecht« vorgezogen, weil dieser präziser erklärt, wo- rum es hier eigentlich geht. »Denn das eindimensionale deutsche Wort ‚Geschlecht‘ erlaubt keine Differenzierung zwischen dem bio- logisch orientierten ‚Sex‘ und dem sozial und kulturell konnotierten ‚Gender‘, wie es in der englischen Sprache erscheint.« (Brandes, S.172)
Gender erklärt und beschreibt also die kulturelle und soziale Konstruktion der Geschlechterrollen. Wir alle werden durch Medien oder Produkte täglich bewusst oder unbewusst mit diesen Rollenbil- dern konfrontiert. Designerinnen und Designer gestalten und prägen oder widersprechen mit ihrer Arbeit diesen Rollenbildern und agieren damit selbstverständlich auch gesellschaftspolitisch. Es ist also klar, dass »Gestaltung ohne die Reflexion von Geschlecht unvollständig ist« (Brandes, S.172).
Das zu erkennen und zu hinterfragen, ist die Aufgabe von Gender Design. Solange beispielsweise Haushaltsgeräte eine klar weibliche Produktsprache besitzen, ist auch klar, wer sie nach gesell- schaftlichen Vorstellungen zu benutzen hat. »Eine stereotype Gestal- tungspraxis mag aus Designperspektive womöglich unproblematisch erscheinen – warum nicht glitzerndes ‚Girls‘-MakeUp gestalten? Auf politischer Ebene ist sie es keineswegs: Sie sichert den Fortbestand geschlechtlicher Hierarchien und Bewertungsmaßstäbe, wonach Frau- en Männern untergeordnet sind und wonach männlich Konnotiertes höher bewertet wird als die weibliche Entsprechung.« (Buchmüller / Joost, S. 74)
Der öffentliche Raum als verhaltensrestriktiver Ort
Der impulsgebende Research zu meinen Arbeiten entstand aus einer qualitativen Beobachtungsstudie heraus. Ursprünglich woll- te ich Emotionen auf das mobile Telefonieren übertragen. Hierzu wollte ich non-verbale Kommunikationselemente, die ja vielfach für die Äußerung von Emotionen genutzt werden, beobachten und de- stillieren. Doch lieferte meine Studie nicht die von mir erhofften Er-
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gebnisse. Anscheinend gab es keine Emotionen in der Öffentlichkeit oder nur erschreckend wenige. Ich kam also zu der Erkenntnis, dass Emotionalität in der Öffentlichkeit anscheinend ein Problem darstellt und Konflikte auslöst.
Die Frage war hier also nicht, wie genau ich spezielle Emoti- onen über das Mobiltelefon übertragen kann, sondern eher, wie ich den offensichtlich gehemmten Personen dabei helfen kann, über- haupt ihre Emotionen in der Öffentlichkeit auszudrücken.
Inspiration für meine Arbeiten kam in Form des amerikani- schen Soziologen Erving Goffman. Aus der Theaterwelt hat er die Begriffe »frontstage« und »backstage behavior« übernommen. Er sagt, wir sind Schauspieler, die von klein auf lernen, ihre Rollen in der Öffentlichkeit zu spielen und somit ihre vorgegebenen sozialen Rol- len einzuhalten. »Die Darstellung des Einzelnen auf der Vorderbühne kann man als Versuch ansehen, als wolle er den Eindruck erwecken, seine Tätigkeit in dieser Region halte sich an gewisse Normen.« (Go- ffman, S.100)
Auf der Vorderbühne spielen wir unsere Rollen im Alltag. Jeder Mensch versucht hier durch seine Interaktionen mit anderen Menschen ein gewisses Bild von sich zu vermitteln. Wir wissen, dass wir beobachtet werden, also spielen wir prinzipiell immer Theater. Nur auf der Hinterbühne, also im privaten Raum, können wir die Mas- ke fallen lassen und unsere Rolle kurzfristig ablegen.
Goffman stellt fest, dass es für viele etablierte soziale Rollen schon bestimmte vorgeformte Fassaden gibt, die unser Handeln wie- derum beeinflussen. Ich stellte mir also die Frage, ob es dann nicht vielleicht auch schon vorgeformte Fassaden und Rollen für Frauen beziehungsweise für Männer gibt.
Die gibt es, sagt Judith Butler. Die Sprachphilosophin, Lite- raturkritikerin und Gendertheoretikerin spricht hier von Performanz und meint damit die Konstruktion von Geschlechtsidentität durch die eigene Darstellung nach außen.
Judith Butler sieht in Performanz den Akt der Verkörperung, mit der die Identität oder das Geschlecht erst konstruiert wird. So sieht sie den Ausruf der Hebamme »Es ist ein Mädchen!« nicht als Feststellung, sondern als Aufforderung »Werde ein Mädchen!« an. Geschlecht ist also nach Butler rein kulturell konstruiert. »Diese re- gulierenden Schemata sind keine zeitlosen Strukturen, sondern his- torisch revidierbare Kriterien der Intelligibilität – Kriterien, die Körper produzieren und unterwerfen, die von Gewicht sind.« (Butler, S.37)
Durch die tägliche Wiederholung dieser Normen werden die- se gefestigt. Frauen verhalten sich weiblich, Männer männlich und in der Öffentlichkeit diesem Bild konform.
Folgt man dem Performanz-Begriff nach Butler, so gibt es konsequenterweise zwei Probleme bei öffentlicher Kommunikation: einmal die Öffentlichkeit an sich, als verhaltensrestriktiver Ort allge- mein, und einmal den Zwang sich weiblich oder männlich »genormt« zu verhalten. All diese Komplexität führt dazu, dass Konfliktsituatio- nen in der Öffentlichkeit nicht vernünftig ausgetragen werden können.
Beide Positionen, sowohl die von Butler und als auch die von Goffman, regen zum Nachdenken an über Realität und Fiktion, über Schauspiel und Wahrheit, die ich in meiner Arbeit aufgreifen und in Frage stellen wollte.
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Frontstage versus backstage behavior
In meiner ersten Arbeit »Frontstage versus backstage beha- vior« begann ich nun, mit all diesen Elementen zu spielen. So sollte beispielsweise die Haarsträhne, als typisch weibliches non-verbales Element, zum Aggressor für emotionale Kommunikation werden.
Durch Drehen der Haarsträhne zwischen den Fingern sollen Stromschläge an das Telefon der Empfängerin oder des Empfängers abgegeben werden. An der »frontstage« kann das öffentlich weiblich konforme Bild beibehalten werden, »backstage« wird aggressives Verhalten ausgeübt.
Analog hierzu wird eine typisch männliche, machoartige Ges- te herausgegriffen, das »sich in den Schritt fassen« und als Sender für emphatische Signale übernommen.
Fasst sich der Mann also beim Telefonieren mit dem Mo- biltelefon in den Schritt, soll dies zu einer Übertragung von Tränen an das Telefon der Gesprächspartnerin oder des Gesprächspartners führen. Das Telefon weint für den Mann und übernimmt somit diese unmännliche Aufgabe für ihn. An der »frontstage« wird das Bild von der männlichen »harten Schale« gewahrt, »backstage« kann unmänn- liches, sensibles Verhalten ausgelebt werden.
Kinderspielzeug für die Rückgewinnung von nicht vorhandenen Emotionen
Meine Beschäftigung mit Judith Butlers Gedanken zum The- ma Performanz, ließen mich auch darüber nachdenken, wie denn die Vorstellung der Gesellschaft von Frau und Mann überhaupt aussieht, welches also die jeweiligen Rollen sind, die es hier zu erfüllen gilt.
Abb.1: Haarsträhne als Aggressor für emotionale Kommunikation
Abb. 2: Das »sich in den Schritt fassen« als Sender für empathische Signale
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Sozial erwünschte Eigenschaften für Männer und Frauen (nach Bem 1974)
Traditionell erfolgt die Erfassung von Geschlechterstereoty- pen über Eigenschaftslisten oder Fragebögen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das »Bem Sex Role Inventory« der Psychologin Sandra Bem von 1974. Cheryl Holt und Jon Ellis haben 1998 die Gültigkeit dieses Modells untersucht und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass traditionell weibliche und männliche Eigenschaften zwar im Auf- weichen begriffen sind, jedoch zum Großteil immer noch für gültig befunden werden.
Und hier das Ergebnis Ihrer Untersuchungen:
Da ich mich zu Beginn meiner Arbeit viel mit Emotionen be- schäftigt hatte, analysierte ich nun die Attribute, die Frauen und Män- nern zugeordnet werden, im Hinblick auf die sechs Hauptemotionen nach Ekman und Friesen (Freude, Wut, Ekel, Furcht, Traurigkeit und Überraschung).
Hierbei fiel mir Grundlegendes auf: Wut scheint eine Emotion zu sein, die exklusiv Männern vorbehalten ist. Wörter wie aggres- sive, dominant, forceful oder auch strong personality legen diesen Verdacht nahe.
Auf der anderen Seite scheinen Traurigkeit oder Sensibilität insgesamt Emotionen zu sein, die nur Frauen gehören. Affectionate, compassionate, eager to soothe hurt feelings, gentle, sensitive to the needs of others, soft-spoken, sympathetic, tender, understanding und warm können als Indikatoren hierfür gelten.
Genau hier wollte ich bei meinen Ideenskizzen ansetzen. Folgt man nämlich der Idee, dass Emotionen grundsätzlich anerzogen beziehungsweise wegerzogen sind und der Auffassung Butlers, dass die ständige Wiederholung unserer Handlungen für deren Festigung verantwortlich ist, könnte es dann nicht die Aufgabe der Designerin
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oder des Designers sein, diese Wiederholun- gen zu durchbrechen? Und sollte man hier- mit nicht wenn möglich schon im Kindesalter anfangen, damit hierzu überhaupt noch eine Chance besteht?
So begann ich, mir ein Kinderspiel- zeug für Mädchen zu überlegen, welches zur Rückgewinnung der bei Frauen verschwunde- nen Emotion Wut dienen könnte. Das Ergeb- nis, die bereits zu Beginn vorgestellte »Prin- zessin Lillifee Waffe«.
Analog hierzu suchte ich nun nach ei- nem Kinderspielzeug für kleine Jungen. Ich überlegte mir, welches Spielzeug zur Rückge- winnung der bei Männern verschwundenen Emotion Traurigkeit dienen könnte. Ich ent- schloss mich, den Begriff auf Sensibilität ins- gesamt auszudehnen, da bei Betrachtung der männlich konnotierten Adjektive insgesamt Wörter fehlen, die auf Sensibilität hindeuten.
Was das Spiel kleiner Mädchen von dem kleiner Jungen unterscheidet, ist das Fürsorgeverhalten. Kleine Mädchen kümmern sich um ihre Puppen, füttern und wickeln, kämmen ihnen die Haare und schminken sie. Dies könnte als Schlüssel für empathisches Empfinden und somit für Sensibilität insge- samt gesehen werden.
Meine Lösung:
Eine Schmink- und Frisierpuppe musste her, aber eine, die den gestalteri- schen Anforderungen von kleinen Jungen entsprechen sollte. Ich fand heraus, dass kleine Jungen auf sogenannte »Action-Figu- ren« stehen. Thor ist der Held des neuesten Kinofilms und ein weiterer Superheld aus den bei kleinen und großen Jungen so favorisier- ten Marvel-Comics. Er ist Krieger und nordi- scher Donnergott und mit seinem riesigen Machtsymbol, dem Hammer Mjölnir, so ziem- lich die männlichste Action-Figur, die es mo- mentan zu kaufen gibt. Hinzu kommt, dass er schöne lange blonde Haare hat, die sich zum Kämmen im besonderen Maße eignen.
(Fotografie: Enrico Aderhold), Rechte an
Bild »Thor Premium Format Figure«: Sideshow Collectibles und Marvel)
ACTION SCHMINK-
UND FRISIERPUPPE »THOR«
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Verrichtungsboxen
für emotionale Kommunikation
Ein drittes Designkonzept von mir be- schäftigte sich mit einem Service, den »Ver- richtungsboxen für emotionale Kommunikati- on«.
Verrichtungsboxen sind garagenähn- liche Parkplätze, die Prostituierten die Mög- lichkeit bieten, ihre Freier in einem geschütz- ten Bereich zu bedienen. Der Begriff der Verrichtungsbox wurde hier von mir bewusst gewählt, da er mit fast klinischer Sterilität ei- nen Service beschreibt, der in die schmudde- lige Ecke der Gesellschaft und der Stadtvier- tel gedrängt wird.
Für meinen Service habe ich ihn ausgewählt, da er in vielerlei Hinsicht das beschreibt, was ich mit meinem Projekt aus- drücken will. Emotionen scheinen eben in der Öffentlichkeit fast so wenig geduldet wie bezahlte Sexdienstleistungen. Der Druck, sie heraus zu lassen, ist allerdings ähnlich hoch. Hier musste meiner Meinung nach Abhilfe geschaffen werden.
Ich erstellte zwei Servicekonzepte, um die Nutzung meiner Verrichtungsboxen für emotionale Kommunikation näher zu er- läutern. So gibt es in der »Verrichtungsbox für unweibliche Emotionen« eine Art Egoshoo-
ter, mit welchem auf Bilder unliebsamer Ge- sprächspartnerinnen und Gesprächspartner auf dem Mobiltelefon geschossen werden kann. Diese erhalten dann nach Beendigung der Aktion den entsprechenden Wutlevel als Textnachricht zugeschickt. Außerdem gibt es einen Schmink- und Frisiertisch, an welchem nach dem Aggressionsakt die Frisur wieder in Ordnung gebracht werden kann.
In der »Verrichtungsbox für unmänn- liche Emotionen« gibt es die Möglichkeit vor der Öffentlichkeit versteckt Emotionen wie Traurigkeit auszuleben. Hier werden Taschen- tücher zum Trocknen der Männertränen an- geboten und die verweinten Augen können dann im Anschluss durch das Ziehen einer Einmal-Sonnenbrille am Automaten verste- cken werden.
Diskurs
Das Kind bekommt von den Eltern gesagt, dass es werden kann, was es wer- den möchte. Als Kind habe auch ich noch daran geglaubt. Je älter ich dann geworden bin, desto mehr wurde mir bewusst, dass es so jedoch nicht stimmt. Meine Eltern haben mich belogen.
Kleine Mädchen wollen eben nicht Feuerwehrmann werden. Dies verbietet al-
lein schon das Wort. Meine Karriere ist also allein schon biologisch determiniert. Damit kann und will ich mich nicht abfinden.
Die Gesellschaft trifft Annahmen dar- über, was wir können oder wofür wir aufgrund unseres Geschlechts nicht geeignet sind,. Während ich jedoch aus der Kirche austreten kann, obwohl ich getauft bin, stellt sich ein Ausstieg aus diesen für mich vorgesehenen Normen als sehr schwierig dar.
Mir ist bewusst, dass mich der Ver- such, meine Meinung zu diesem komplexen Thema darzustellen, zwangsläufig zur Mit- täterin gemacht hat. So spiele ich mit eben jenen Stereotypen, die ich kritisiere und be- nutze die Elemente, die ich ja eigentlich de- konstruieren möchte. Ich möchte hiermit aber die Eindimensionalität dieser Darstellungen aufzeigen und Veränderungen denken.
Die Zukunft als Möglichkeitsform ist hier ein wichtiges Konzept, wenn es um das Denken von Veränderungen geht. Ernst Bloch setzt sich in seinem Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung« mit dem »Noch-Nicht-Sein« aus- einander, das für unser Jetzt kennzeichnend ist. Der Mensch und somit die Gesellschaft sei noch nicht fertig, da wir unser »Noch- Nicht-Haben« spüren. Alles Seiende umgibt laut Bloch ein »Bedeutungshof« seiner un-
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realisierten Möglichkeiten, der uns auf den Weg bringen kann, das Noch-Nicht-Haben in ein Haben und das Noch-Nicht-Sein in ein Sein umzuwandeln.
Der Wunsch etwas zu verändern, muss einer Veränderung immer voran gestellt sein. »Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen […]« (Bloch, Vorwort).
Eben in diesem Sinne sollten auch meine Designkonzepte gesehen werden: Sie formen, probieren und verwerfen. Sie sind Instrumente zum Weitertreiben und Über- schreiten. Denn »Denken heißt Überschrei- ten« (Bloch, Vorwort).
Jedoch dürfen wir es nicht beim Den- ken belassen. Es muss eben auch getan wer- den! Und zu tun haben wir mehr als genug. Gibt es gerade heute doch viele Themen, die keinen weiteren Aufschub mehr dulden.
Was ich als nächstes tun werde? Ich weiß es noch nicht, aber vielleicht werde ich ja Feuerwehrmann. •
BLOCH, Ernst: Das Prinzip Hoffnung,
Erster Band; Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1959
BRANDES, Uta: Gender Design
In Erlhoff, Michael / Marshall, Tim: Wörterbuch Design
Birkhäuser Architektur, Auflage: 1, 2007
BUCHMÜLLER, Sandra / Joost, Gesche:
Der Schein bestimmt das Sein, In: Neuwerk. Zeitschrift für Designwissenschaft, form+zweck, Ausgabe 1, 2009
BUTLER, Judith: Körper von Gewicht Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1997 EKMAN, Paul / FRIESEN, Wallace V.:
The Repertoire of nonverbal behavior: Categories, Origins, Usage and Coding In Semiotica, 1969
GOFFMAN, Erving: Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag
Piper Verlag, 9. Auflage, August 2003
HOLT, Cheryl L / ELLIS, Jon B:
Assessing the Current Validity of the Bem Sex-Role Inventory, In: Sex Roles, Volume: 39, Issue: 11-12, Springer, 1998
Über Dominique Esser
Dominique Esser hat in Hong Kong und Köln Design studiert und in diesem Jahr ihr Diplom mit dem hier vorgestellten Thema abgeschlossen.
Seit vielen Jahren arbeitet sie als Art Director bei der digitalen Full Service Agen- tur LBi und war Team Captain auf der Design for Conversion 2011, einer interaktiven Kon- ferenz mit dem Schwerpunkt Verhaltensände- rung mit und durch Design.
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GENDER FORSCHUNG –
UND DESIGN
FRAUEN
(UND MÄNNER)
Uta Brandes hat die Professur für Gender
und Design an der KISD inne und befasst sich mit der Geschlechterfroschung im Design. Wir haben sie zum Interview über dieses recht junge Design-Forschungsgebiet gebeten.
Wie sind sie Professorin im Be- reich Gender Design geworden und warum gibt es diesen Bereich noch so selten
an (Design-)Hochschulen?
1. Die NRW-Wissenschaftsministerin Anke Brunn hatte in den 1990er Jahren ein Programm aufgelegt, um den Frauenanteil an Professuren zu erhöhen: Jede in NRW ansäs- sige Hochschule und jedes Fach konnten sich um eine zusätzliche Professur bewerben – al- lerdings musste die Professur – egal, in wel- chem Fach – einen Genderbezug haben. Die Köln International School of Design / KISD be- warb sich – und schwupps, wurde ihnen eine Professur zu »Gender & Design« zugespro- chen! Dann gab es das übliche Ausschrei- bungsverfahren, ich bewarb mich und wurde berufen. (Mir fällt gerade ein: das war 1995: so lange bin ich schon an der KISD – und es macht mir immer noch Spaß:)
2. Das frage ich mich auch. Meines Wissens gibt es immer noch keine Profes- suren im Design, die ausdrücklich diesem Thema gewidmet sind bzw. in der Stellenbe- schreibung »Gender« explizit genannt wer- den. – Allerdings gibt es mittlerweile schon
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einige (wenige) Designprofessorinnen, die Gender in ihre Lehr- und Forschungstätigkeit einbringen: z. B. an der UdK in Berlin Profes- sorin Dr‘in Gesche Joost (die hat jedoch an der KISD und u.a. bei mir studiert.)
Meine Erklärungen für diesen Um- stand mangelnder Thematisierung von Gen- der im Design: Die DesignerInnen in und außerhalb der Hochschule sind einerseits teilweise noch von funktionalistischen Ideen geprägt: dass Design sozial und funktional sein müsse und dieses überhaupt nichts mit Geschlecht zu tun habe – gutes Design sei eben für alle gut und selbstverständlich ge- schlechtsneutral. Das ist aber schlicht falsch, outdated und ideologisch.
Des Weiteren: Bei einer jüngeren Ge- neration von (nicht nur) Designerinnen sind aus Unwissenheit Gender-Fragen negativ belegt: Offenbar stellt sich da das Klischee von verbitterten, ungeschminkten Feminis- tinnen ein – was Quatsch ist. Denn intere- ressanterweise sind es häufig sogar eher junge Frauen (und nicht Männer), die auf das Thema – zumindest zu Anfang – skeptisch re- agieren: Ich denke, sie haben vielleicht gera- de im Design Sorge, dass sie, wenn sie doch nun in männlich geprägten Feldern (Produkt-, Interface-Design etc.) »wildern« und reüssie-
ren wollen, zurückgeworfen würden auf eine »Frauen-Nische«. – Sie vergessen dabei kla- rerweise, dass »Gender« alle Geschlechter meint, also kein Frauenthema ist.
Warum ist die Reflexion von Gender wichtig für die Gestaltung?
Weil wir alle immer und überall auf der Welt vergeschlechtlicht sind und, meis- tens unbewusst, in Geschlechterkategorien denken und handeln. Selbstverständlich sind Erfahrungen und gesellschaftliche Prozesse unausweichlich von »Gender« geprägt – und wir verhalten uns dementsprechend. Die Ge- sellschaft gibt einerseits vor, was als »männ- lich oder weiblich« konstruiert ist, und wir verhalten uns nach diesen Ritualen und Nor- men. Denn selbst, wenn wir eine stereotype Rolle ablehnen und uns bewusst entgegen dieser verhalten, reagieren wir damit immer noch auf die gesellschaftlichen Geschlechter- vorstellungen. – Da können auch Designe- rinnen und Designer nicht »aus ihrer Haut«. (Meine) Studien zeigen, dass Designprofis auch unbewusst ihr »Geschlecht« in ihrem Design transportieren. Da ist es allemal bes- ser, sich dieser »Genderisation« bewusst zu sein: dann können wir damit wissentlich und absichtsvoll umgehen.
Wie viele geschlechtliche Klischees stecken auch heute noch im Design von Alltagsprodukten?
Oh, immer noch erstaunlich viele. Zum einen sind da die Produkte und Kommu- nikationsstrategien (Werbung), die Zielgrup- pen intentional qua Geschlecht ansprechen; dasgiltbesondersfürTrendsegmente:Mode, Kosmetik, Autos, Sport.
Zum anderen aber, wie bereits er- wähnt, existieren noch ärgerlich viele De- signs, die sozusagen aus Versehen zutiefst konventionelle Geschlechter-Klischees be- dienen: Küchen wenden sich immer noch an Frauen (auch wenn vielleicht das Frauenbild sich eigentlich durchaus verändert hat) – und dann gibt es wenige (teure), die explizit den angeblich männlichen Wünschen entgegen- kommen: da gibt es dann eine »Werkbank« von bulthaup oder die Küche von Porsche- Design, die auch eher so aussieht wie ein Sportwagen…
Ist geschlechtlich reflektiertes Design automatisch auch politisches Design? In gewisser Weise ja. Denn dadurch werden ja Zumutungen und Rollen von Frau- en und Männern reflektiert, kritisiert, in Fra- ge gestellt. Das sind ja eminent wichtige
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gesellschaftliche Dimensionen. Wenn die Gestaltung von Produkten, Zeichen, Dienst- leistungen gendersensibel (wie ich es nen- nen würde) wäre, dann würden sich ja auch Verhaltens- und Umgangsweisen von Nutze- rinnen und Nutzern ändern; das wiederum würde auch ihre Einstellungen langfristig tan- gieren/verändern.
Können Sie ein konkretes Produkt nennen, an dem der Gender Aspekt intelli- gent berücksichtigt wurde? Oder eines, wo dies offensichtlich nicht geschah?
Intelligent, weil gendersensibel( und ich werde von diesem Unternehmen NICHT bezahlt!):Die gesamte Produktpalette von Apple; und zwar von Anfang an.
Und wo es nicht intelligent berück- sichtigt bzw. geschlechterstereotyp behan- delt wurde: leider fast alle Produkte, insbe- sondere Werkzeuge, Autos, Spielzeug … aber noch viele mehr.
In einem Ihrer letzten Forschungs- projekte »Frauenzimmer« untersuchten Sie die Erwartungen, die Frauen an ein Hotel- zimmer stellen. In wie fern unterscheiden sich hier die Erwartungen von Frauen von denen von Männern?
Kurz gesagt: Männer haben 3 Wün- sche an ein Hotelzimmer: Kostenloses W- LAN, harte Matratze, kräftige Dusche. Frau- en: im Schnitt 40 Kritikpunkte bzw. Wünsche, die sich nicht nur auf Produkte erstrecken, sondern noch viel mehr auf Atmosphäre, ver- trauensvollen Service, sich sicher fühlen zu können. Wir haben die Frauenwünsche unter den »3 S« zusammengefasst: Sinnlichkeit, Sozialität, Sicherheit. (Das ist den meisten Männern ziemlich egal.)
Eine provokante Frage: Wer sind die besseren Designer, Frauen oder Män- ner? Und auch diese Frage sei erlaubt: Was ist Ihre Meinung zur Frauenquote?
Ich habe gerade – gemeinsam mit meinem Kollegen Michael Erlhoff und KISD- Studierenden – ein Buch abgeschlossen: »My Desk is my Castle« – wir haben in allen 5 Kontinenten Schreibtische in Büros darauf- hin untersucht, fotografiert und ausgewertet, was die Menschen alles auf dem Schreibtisch ausstellen, das nicht zur Arbeitserledigung erforderlich ist – und wir haben überall auf der Welt gewaltige Unterschiede zwischen »männlichen« und »weiblichen« Schreibti- schen gefunden. (Das Buch erscheint im Ok- tober auf Englisch im Birkhäuser Verlag).
Bessere DesignerIinnen: Nach mei- ner Einschätzung haben sie, verallgemeinert, unterschiedliche Qualitäten (und Defizite): Frauen sind in ihrer Herangehensweise häufig verantwortlicher, präziser, bedenken immer auch das Drumherum und ggf. die Nachhal- tigkeit mit; dafür aber sind sie risikoscheuer, wagen oft nicht den großen Wurf, ohne an die Konsequenzen zu denken. Männer dage- gen sind viel experimenteller, zum Teil damit origineller, aber auch weniger reflektiert und weniger verantwortlich. (Dies ist eine sehr grobe Unterscheidung.)
Frauenquote: Obwohl viele Men- schen (auch viele Frauen) dagegen sind: Ich bin dafür. Wenn es denn per Einsicht, unter- nehmerischer Selbstverpflichtung und mit der Etablierung von Gleichstellungsbeauftragten in 40 Jahren nicht nennenswert funktioniert hat, dann hilft nur noch die rigorose Verord- nung. – Und wie es einst die in Deutschland erste Vizepräsidentin einer Universität (Heide Pfarr) so plakativ formuliert: »Ich lebe lieber gut bezahlt mit dem Verdacht, ich sei eine Alibifrau, als dass ich einfach eine Frau bin – aber arbeitslos.«
DAS INTERVIEW FÜHRTEN NADINE ROSSA
& DOMINIQUE ESSER
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Wie steht es um den typografischen Nachwuchs in Deutschland?
Wie gehen die Studierenden mit Typografie um?
Wie sieht die typografische Ausbildung in Deutschland aus?
typoversity präsentiert aktuelle Projekte aus Ausbildung und Studium.
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ALESSIO
LEONARDI
WENN ER DENKT,
DENKT…
Ein illustratives Interview von und mit Alessio Leonardi
WWW.LIONBEE.DE
WAS
DENKT, DASS ER
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UND
DER STAATLICHEN Interview mit Michael Blomeier,
Christian Lessing und Fritjof Wild
DES LANDES SACHSEN
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ORIENTIERUNGSSYSTEM

Ein neues Informations- und Orientierungssystem für die staatlichen Schlösser, Burgen und
Gärten des Landes Sachsen, das zur Zeit nach und nach realisiert wird. Wir sprachen mit den
drei Designern über die Hintergründe.
Bitte stellt Euch kurz vor. Wer seid ihr und wo habt ihr drei euch kennen gelernt?
Wir alle haben zur selben Zeit an der FH Düsseldorf studiert. Je zwei kannten sich und irgendwann lernten sich dann alle drei ken- nen. Deshalb steht auch einer immer am Rande. Zwei besitzen ein Smartphone – einer nicht. Zwei sind katholisch – einer nicht. Zwei fahren Fahrrad – einer nicht. Aber eines haben alle drei gemeinsam: Sie sind kurzsichtig und tragen Brillen.
Ihr kommt aus drei unterschiedlichen Bereichen: Archi- tektur, Produkt- und Informationsdesign. Liegt dabei eine Zusam- menarbeit besonders nahe? Und wie funktionierte die Zusammen- arbeit in diesem speziellen Projekt?
Jeder kann alles und wirklich ALLES besser. Der Architekt ge- staltet die Grafik natürlich selber, der Informationsdesigner sagt dem Architekten, was er zu tun hat und der Produktgestalter weiß nichts, erklärt es aber trotzdem.
von links nach rechts sind zu sehen Michael Blomeier, Christian Lessing, Fritjof Wild
Foto © www.claudiarath.de
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Der Kreis ist das vielleicht ein- fachste aber doch ausdrucksstärkste Ge- staltungselement. Warum eignet es sich so gut als Ausgangspunkt für das Leitsystem?
Wenn der Gestalter nichts weiß, macht er einen Kreis… In diesem Fall passte er. Wir formulierten es für uns so: ein Punkt ist ein Kreis, ist eine Fläche. Der Punkt ist ein gelerntes Orientierungszeichen – wie der an den Weg gelegte Stein oder der gemalte Punkt an Bäumen und Felsen. Wird der Kreis dreidimensional, entsteht ein Zylinder. Die zy- lindrische Form zeigt keine Richtung an, son- dern ist sich selbst genug. Ortsspezifische Informationen und Orientierung erfolgen aus- schließlich über die grafische Gestaltung.
Ist die optische Ähnlichkeit gelber Punkt = Sonne Zufall oder Intention?
Die Farben sind Teil des sächsischen Wappens und die Verwendung war Vorgabe im Wettbewerb. Natürlich kann der Punkt auch als Sonne interpretiert werden, aber auch als Zentrum einer Blüte oder als Markie- rung für die Biene…
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Das Thema Schlösser, Burgen und Gärten klingt nach Schnörkel, Märchen, Prinzessinnen. Das Leitsystem aber ist sehr modern. Ist der Kontrast bewusst gewählt?
Die Orte, an denen das Informations- und Orientierungssys- tem aufgebaut wird, könnten unterschiedlicher nicht sein. Es sind Burgen auf Bergspitzen darunter und Schlösser, innerstädtische Park- anlagen und Schlossgärten. Unser Motto war: Wer sucht, wird auf- merksam – wir geben dem Besucher eine Hilfestellung zum Orientie- ren, aber wir leiten ihn nicht. Wir nutzen zur Informationsvermittlung die vorhandenen Flächen, denn wir verstellen mit unserem System keine Blickachsen.
Diesen Widerspruch zwischen Informations- und Orientie- rungsauftrag bei geringem Eingriff in die Bausubstanz und Garten- kompositionen versuchten wir durch ein modulares, auf die Informati- onsvermittlung gerichtetes System zu lösen. Wir gaben den Objekten bestimmte Proportionen, so dass sie auch als Sitzmöbel nutzbar sind. Und wir wollten auf keinen Fall den vorhandenen Stil der jeweiligen Schlösser, Burgen oder Gärten nachahmen. Intern bezeichneten wir unsere Entwürfe in diese Richtung als »Asbach-Uralt-Assmannshau- sen-Design«. Trotz aller formalen Zurückhaltung hatten wir einen Ge- staltungswillen, so entstanden letztendlich diese modern anmuten- den Formen.
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Das Orientierungssystem ist Wett- bewerbssieger beim Orientierungs- und Informationssystem für das Schlösserland Sachsen. Ist es bisher nur ein Entwurf oder wird es auch umgesetzt?
Die Ergebnisse werden Stück für Stück umgesetzt. Letztendlich wird das Sys- tem an 19 Orten, wie der Albrechtsburg Mei- ßen, dem Großen Garten in Dresden oder am Schloss Pillnitz aufgestellt werden. •
DAS INTERVIEW FÜHRTEN NADINE ROSSA
& PATRICK MARC SOMMER.
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UEBER URHEBER-
RECHT,
UND CREATIVE COMMONS
DENKEN – PLAGIATE
DESIGNRECHT-SERIE VON
JENS O. BRELLE (ART LAWYER)
»Wer abschreibt ist zu faul
zum Denken!«
– ein Satz der sich bei Lehrern und
Eltern großer Beliebtheit erfreut, wenn es um die Diskussion beim Hausaufgaben »ab- schreiben« geht. Schon früh wird Kindern eingetrichtert, dass es sich nicht schickt, die Hausaufgaben beim Nachbarn abzuschreiben – schließlich lernt man fürs Leben und nicht für die Schule. Ein paar Jahre später an der Universität sieht das dann schon wieder an- ders aus. Auf diese Idee könnte man zumin- dest kommen, wann man an die in diesem Jahr öffentlich gewordenen Plagiatsfälle von
zu Guttenberg, Koch-Mehrin und Co. denkt. Schneller als man denkt, ist Mann seinen oder Frau ihren Doktorgrad los.
Selbst ernannte Plagiatsjäger haben sich auf die Jagd gemacht, um Plagiatoren zu überführen. Sie haben sich auf die Lauer gelegt, laut in den Wald hinein gerufen und scheuen selbst die Öffentlichkeit. Nur auf Druck eines Boulevardmagazins ist der Name des Initiators der Mutter aller »plagSeiten« ans Licht gekommen. Martin Heidingsfelder, ein bayerischer Programmierer und Initiator der Seite »Vroniplag« hat sich selbst geou-
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tet. Davor hat er jedoch zusammen mit vielen tausend ehrenamtlichen Helfern so manchen Inhaber eines Doktorgrads ins Schwitzen oder sogar um den Doktor gebracht.
Prominentestes »Opfer« ist bislang Karl-Theodor zu Guttenberg. Ihn hat das Ab- schreiben diverser Teile seiner Doktorarbeit und das falsche bzw. nicht-zitieren der Fund- stellen nicht nur den Doktorgrad sondern auch seinen Job als Bundesverteidigungsminister gekostet. Ein Teil der Internetgemeinde rief daraufhin bei Facebook die Aktion »Wir wol- len Guttenberg zurück« ins Leben. Genützt hat es jedoch nichts, noch in diesem Jahr wird Guttenberg Deutschland zusammen mit seiner Familie in Richtung USA verlassen. Für wie lange weiß keiner.
Nicht weniger prominent ist der Fall der FDP-Europaabgeordneten Silvana Koch- Mehrin. Auch bei ihrer Doktorarbeit über die »Historische Währungsunion zwischen Wirt- schaft und Politik« wurden diverse Stellen als Plagiat enttarnt. Die Universität Heidelberg hat ihr daraufhin den Doktorgrad entzogen. Koch-Mehrin wehrt sich dagegen. Auf ihrer Homepage nimmt sie Stellung zu der Ent- scheidung des Promotionsausschusses der Universität Heidelberg. Sie schreibt von Un-
genauigkeiten, Oberflächlichkeiten, Fehlern und dass ihre Arbeit kein Meisterstück sei. Das alles habe ihr auch ihr Doktorvater im Erstgutachten vor elf Jahren bestätigt. Die- sem Gutachten habe sich der Zweitgutachter angeschlossen. Dennoch habe sich der Pro- motionsausschuss dazu entschlossen, Koch- Mehrin den Doktortitel zu verleihen. Nun lässt sie prüfen, ob die Entscheidung über die Aberkennung des Doktorgrades rechtswidrig ist.
Koch-Mehrin und zu Guttenberg sind Personen die in der Öffentlichkeit stehen und somit unter besonderer Beobachtung. Dass es auch Personen treffen kann, die lediglich einen prominenten Vater haben, zeigt das Beispiel der Tochter von Edmund Stoiber, Veronica Saß. Nach ihr ist die Internetseite »VroniPlagWiki« genannt, deren Initiator der bereits oben erwähnte Martin Heidingsfelder ist. Saß hat über die »Regulierung im Mobil- funk« promoviert. Die Universität Konstanz hat ihr den Doktorgrad 2008 verliehen und in diesem Jahr wieder aberkannt. Zu viele Seiten habe Saß aus der Doktorarbeit »Regu- lierung in der Telekommunikation« der Ham- burger Rechtsanwältin Dr. Tanja Eisenblät- ter übernommen, ohne sie entsprechend zu kennzeichnen.
Grundsätzlich ist es nicht verboten, seine Dissertation mit fremden Federn zu schmücken, allerdings müssen bestimmte Formalien dabei eingehalten werden. Para- graf 51 des Urheberrechtsgesetzes gibt die Vorraussetzungen für Zitate vor:
Zulässig ist die Vervielfältigung, Ver- breitung und öffentliche Wiedergabe eines veröffentlichten Werkes zum Zweck des Zi- tats, sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist. Zulässig ist dies insbesondere, wenn
1. Einzelne Werke nach der Veröffentlichung in ein selbständiges wissenschaftliches Werk zur Erläuterung des Inhalts aufgenommen werden,
2. Stellen eines Werkes nach der Veröffentlichung in einem selbständigen Sprachwerk angeführt werden,
3. Einzelne Stellen eines erschienenen Werkes der Musik in einem selbständigen Werk der Musik angeführt werden.
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Beim Anfertigen von wissenschaft- lichen Arbeiten sind Zitate anderer Autoren durchaus notwendig und sinnvoll, zum Bei- spiel um eigene Aussagen zu bekräftigen oder um sie zu widerlegen. Durch das Urhe- berrecht genießen Werke wie Bilder, Texte oder Musik urheberrechtlichen Schutz. Erst wenn der Urheber seit 70 Jahren tot ist, wer- den Werke gemeinfrei und können von jeder- mann genutzt werden. Wer Zweifel darüber hat, ob ein Werk urheberrechtlichen Schutz genießt, sollte in jedem Fall vorher klären, wer der Inhaber der Rechte ist. Dies kann man in Deutschland zum Beispiel bei den Ver- wertungsgesellschaften (GEMA, VG Wort, VG Bild-Kunst usw.).
Wer Zitate nutzen möchte, sollte auf die korrekte Zitierweise achten. Das Gesetz kennt das Großzitat, das Kleinzitat und das Musikzitat.
Ein Großzitat liegt nach § 51 Nr. 1 UrhG dann vor, wenn komplette Werke in ein neues selbstständiges und vor allem wissen- schaftliches Werk lediglich zur Erläuterung aufgenommen werden.
Ein Kleinzitat ist nach § 51 Nr. 2 UrhG zulässig, wenn nur vereinzelt Sätze aus einem fremden Werk für das eigene Werk übernommen werden. Zu beachten ist hier-
bei, dass das zitierte Werk nicht länger ist, als das eigene Werk.
Bei einem Musikzitat dürfen nach § 51 Nr. 3 UrhG einzelne Stellen eines veröf- fentlichten Musikwerkes in ein neues selbst- ständiges Musikwerk übernommen werden.
Einen Sonderfall stellt das »kleine Großzitat« dar. Es wird häufig im Bereich von Bildern angewendet und hat sich aus der Rechtsprechung heraus entwickelt. So kann beispielsweise ein Bild oder ein kurzes Ge- dicht vollständig übernommen werden, wenn ein Zitat nur dadurch einen Sinn ergibt. Alle weiteren Voraussetzungen müssen dennoch erfüllt sein.
Den oben genannten ehemaligen Dok- toren wurde unter anderem auch vorgeworfen, Zitate nicht als solche kenntlich gemacht zu ha- ben, bzw. keine entsprechende Quellenanga- be. Diese beiden Voraussetzungen sind jedoch unabdingbar bei der Verwendung von Zitaten. Kenntlich gemacht werden können Zitate durch Hervorhebungen wie zum Beispiel Anführungs- zeichen. Des Weiteren ist der Name des Urhe- bers zu nennen, damit eine Überprüfung mög- lich ist und die Rechte des Urhebers gewahrt werden können. Weiterhin darf an einem Zitat weder sprachlich noch grammatikalisch etwas verändert werden (Veränderungsverbot).
Dass mit Werken in Bezug auf Urhe- berrechte und Verwertung auch anders umge- gangen werden kann, zeigt die Organisation »Creative Commons«. Sie bietet eine Art vor- gefertigte Lizenzverträge mit denen der Ur- heber selbst entscheiden kann, wie mit sei- nen Werken umgegangen werden kann. Der Vorteil für den Verwerter liegt auf der Hand, er kann auf den ersten Blick erkennen wie er die Werke nutzen darf. Im Juli dieses Jahres wurde am Landgericht Berlin erstmals eine Creative Commons Lizenz gerichtlich durch- gesetzt. Eine rechtsextreme Partei hatte ein Foto von Thilo Sarrazin verwendet, welches die Fotografin unter einer Lizenz in ihrem Blog eingestellt hatte. Die Partei nutzte das Foto ohne jegliche Angabe eines Lizenztex- tes, der Internetadresse oder des Namens der Urheberin.
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Folgende Lizenzierungsmodelle bietet Creative Commons:
Namensnennung
Namensnennung- KeineBearbeitung
Namensnennung- NichtKommerziell
Namensnennung-NichtKommerziell- KeineBearbeitung
Namensnennung-NichtKommerziell- Weitergabe unter gleichen Bedingungen
Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen
HTTP://DE.CREATIVECOMMONS.ORG/WAS-IST-CC
Die Verwendung der Lizenzen ist einfach und bietet viele Vorteile für Rechte- inhaber, Verwerter und die Allgemeinheit, schließlich wächst mit jeder Veröffentlichung unter einer CC-Lizenz auch das Angebot an Inhalten im Internet.
»Wenn du denkst du denkst dann denkst du nur du denkst«
sang Juliane Werding bereits 1975 und bringt es damit wohl auf den Punkt. Wer denkt, er könne sich das Leben leichter ma- chen, in dem er seinen Kopf nur für das Ko- pieren von Inhalten einschalten muss, denkt falsch. Das Urheberrecht erlaubt im Rahmen des Zitats eine Nutzung von bereits gemach- ten Gedanken. Dieser Rahmen sollte gerade von Menschen die wissenschaftlich Arbeiten nicht gesprengt werden. Jetzt alle Dokto- randen unter Generalverdacht zu stellen ist falsch, aber jeder Einzelne sollte sein Han- deln am Besten noch einmal überdenken. •
TEXT VON ART LAWYER – JENS O. BRELLE
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht
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KEINE WELT
WIE EINE
ANDERE
INTERVIEW MIT KERSTIN OBERDÖRFER
»Die arabische Welt ist in Aufruhr und wehrt sich gegen ihre diktatorischen Regierungen, die westliche Welt blickt beunruhigt in die Region
und selbst Fachleute wissen die Lage nicht einzu- schätzen.« Das Projekt »Keine Welt wie eine andere« entstand in einem Editorialdesign-Kurs von Prof. Nora Gummert-Hauser und untersucht die Unter- schiede zwischen zwei Kulturen mittels dezenten Illustrationen.
Wir sprachen mit Kerstin Oberdörfer um mehr über das spannende Projekt zu erfahren.
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Bitte stell dich und dein Projekt kurz vor.
Hallo, mein Name ist Kerstin Oberdörfer, geboren 1988 in Düsseldorf. Mit 19 Jahren, also direkt nach dem Abitur, habe ich mein Studium im Fachbereich Kommunikationsdesign an der Hochschule Niederrhein begonnen. Im folgenden 7. Semester werde ich meinen Bachelor-Abschluss machen. Danach möchte ich mich gerne für ein weiterführendes Master-Studium bewerben.
Nach 6 Semestern spannenden Studiums kann ich sagen, dass die Zeit am Krefelder Campus nicht nur meine gestalterischen Fähigkeiten, sondern auch meine persönliche Entwicklung stark ge- prägt hat. Als Kommunikationsdesignerin ist nach und nach mein idealistischer Anspruch gewachsen, die Welt zu verändern, zu beein- flussen. Themen, die mir unter den Nägeln brennen, möchte ich be- greifen und gerne mit andere Menschen teilen. Aus diesem »Drang« ist auch meine letzte Arbeit »Keine Welt wie eine andere« entstan- den. In einem Editorial-Kurs wurde von Frau Prof. Nora Gummert- Hauser das Thema »Naher Osten« vorgegeben. Dieses garantierte nicht nur Raum für vielfältige gestalterische Arbeiten, sondern eben- so für reichlichen Diskussionsstoff.
Schon zu Beginn meines Projektes war ich stark an kulturel- len und gesellschaftlichen Aspekten der »anderen Welt« interessiert. Dass ich mich schließlich in meiner Arbeit »keine Welt wie eine an- dere« intensiv mit dem Islam beschäftigt habe, resultierte vor allem daraus, dass in vielen Ländern des »Nahen Ostens« der muslimische Glaube einen sehr starken Einfluss auf die Lebensführung hat.
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Deine Arbeit beschäftigt sich mit dem Nahen Osten und dem Alltag dort. Glaubst du, dass du Klischees aufgreifst bzw. woher hast du die Informationen für die gestalterische Arbeit?
Sich in einer fremden Kultur zurecht zu finden ist häufig nicht einfach. In Deutsch- land kenne ich mich aus. Ich weiß, dass nicht jeder in Lederbundhosen herum läuft, dass Pünktlichkeit zwar eine Tugend aber nicht zwangsläufig eine typisch deutsche ist und dass auch Deutsche, zum Trotz allgemei- ner Vorurteile, einen gewissen Sinn für Hu- mor besitzen. Erheblich schwieriger wird es, wenn man sich mit Klischees anderer Länder beschäftigt. Das Aufgreifen von Vorurteilen wollte ich in meiner Arbeit möglichst vermei- den. Das war nur durch eine intensive und umfangreiche Recherche möglich. Das Buch »die fremde Braut« von der deutschtürki- schen Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek war mir dabei ebenso eine große Stütze, wie die Publikation »Familienleben im Islam: Tra- ditionen, Konflikte, Vorurteile« der deutschen Islamwissenschaftlerin Rita Breuer. Zahlrei- che Stunden habe ich mit einer ergänzenden Recherche im Internet verbracht, einerseits, um mir durch Fotos einen Eindruck vom all- täglichen Straßenleben im Nahen Osten
zu verschaffen und andererseits, um durch TV-Reportagen und Interviews einen weite- ren Einblick in die Welt des »Nahen Osten« zu erlangen. Bei meinen Nachforschungen musste ich immer wieder feststellen, dass man sich als »Nicht-Muslim« sehr intensiv in die religiöse Materie einarbeiten muss, um die Grenzen zwischen Islam und radikalem Islamismus, zwischen Vorurteilen und Fak- ten zu erkennen. Alles, was ich bislang über den Islam wusste, habe ich erneut auf den Prüfstand gestellt. Mein Ziel war es immer, beide Seiten – die deutsche und die muslimi- sche – zu Wort kommen zu lassen, eine Ge- genüberstellung zu arrangieren, die mit kei- ner der beiden Kulturen sympathisiert. Das ist meiner Meinung nach nur möglich, wenn man sich von Vorurteilen frei macht und sich von Klischees endgültig verabschiedet.
Haben sich im Laufe der Recherche Vorurteile bestätigt oder gelöst?
Ich spreche nur sehr ungerne von Vor- urteilen, da das Wort für mich eine sehr nega- tive, endgültige Bedeutung hat. Ich würde da- her lieber von Ahnungen oder Vermutungen sprechen. Zu Beginn meiner Recherche hatte ich beispielsweise den Verdacht, dass Sexu- alität im Islam ein »Tabu-Thema« ist. Dazu
zählt für mich nicht nur die Regel, die es Part- nern vor der Eheschließung verbietet zärtli- chen Kontakt oder sogar Geschlechtsverkehr miteinander zu haben, sondern auch eine ra- dikal ablehnende Haltung gegenüber Homo- sexuellen. Diese Vermutung hat sich häufig bestätigt, auch wenn diese Haltung nicht von allen Muslimen gleichermaßen kompromiss- los vertreten wird.
Eine weitere Vermutung, die sich be- stätigt hat, beschäftigt sich mit dem allgemei- nen Stellenwert des Glaubens im Nahen Os- ten. Religion ist dort keine Option, sondern Wegweiser für ein erfülltes Leben in Einklang mit Gott. Und das hat nicht zwangsläufig das Beunruhigende einer starren, einengenden Ideologie an sich. Die Gläubigen haben ganz im Gegenteil etwas, wofür sie leben können, das ihnen über schwierige Zeiten hinweg hilft. Dieser Aspekt der Religion kann durch- aus beneidenswert sein.
Ein Verdacht, der sich nicht bestä- tigt hat, ist, dass »Islam gleich Islam« ist. In Deutschland wird er anders praktiziert als in den Ländern des Nahen Osten, wo er seinen eigentlichen Ursprung findet. In Deutschland ein Muslim zu sein ist etwas anderes als bei- spielsweise in Saudi-Arabien, schon alleine, weil das tägliche Leben in Deutschland kei-
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ne Rücksicht auf Gebetszeiten, Ramadan oder muslimische Feierta- ge nimmt. Das Leben unter Anders- oder Nicht-Gläubigen prägt auch die Haltung zum eigenen Glauben. In Deutschland lässt sich dadurch sogar eine verstärkte Fokussierung auf Gott feststellen, um in der Fremde Halt zu finden und Kontakte zu Gleichgesinnten zu knüpfen. Durch meine Arbeit habe ich viele weitere Beispiele gefunden, wo sich Vermutungen bewahrheitet haben oder wiederlegt wurden. Ent- scheidend für mich ist, dass man es nicht bei Vermutungen belässt, sondern ihnen nachgeht um ihren Ursprung zu hinterfragen.
Eine der Fragen, die Du Dir im Rahmen deines Projektes »Keine Welt wie eine andere« gestellt hast, war: »Warum ist ein harmonisches Zusammenleben so schwierig?« – hast Du im Zuge des Projektes darauf Antworten gefunden?
Die Frage nach einem harmonischen Zusammenleben ist in der Tat zu einem sehr zentralen Aspekt meiner Arbeit geworden. Man könnte ihn noch weiter konkretisieren. Warum gibt es so weni- ge freundschaftliche Gemeinschaften zwischen Deutschen und Mus- limen? Warum fühlen sich so viele Deutsche durch eine angebliche »Islamisierung« bedroht und so viele Muslime missverstanden? Be- sonders wichtig waren bei meiner Suche nach Antworten die folgen- den Aussagen des französischen Psychiaters und Autors François Le- lord die ich eher zufällig in seinem Buch »Hector und das Wunder der Freundschaft« gefunden habe:
»Ein Freund ist jemand, bei dem dir wichtig ist, was er von dir hält. Ein Freund ist jemand, dessen Lebensweise du akzeptieren kannst. Ein Freund ist jemand, den du gerne siehst.«
Worte, die uns daran erinnern, dass die Sache mit der Freund- schaft nicht so einfach ist. Selbst die reine, neutrale Akzeptanz einer anderen Lebensweise stellt eine große Herausforderung dar. Man könnte ganz plakativ sagen: Europa und der Nahe Osten »verstehen« sich einfach nicht! Es fehlen existentielle Grundlagen einer Freund- schaft, im Sinne von Anerkennung, Akzeptanz und Sympathie. Woran liegt das? Der Ansatzpunkt, den ich gewählt habe, verarbeitet religiös- kulturelle Unterschiede. Eine umfassende Antwort, die alle Probleme zwischen Deutschen und Muslimen löst, habe ich mit meiner Arbeit natürlich nicht gefunden. Aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass das Problem unlösbar ist. Nach Barrieren zu suchen, die eine Freund- schaft zwischen Kulturen verhindern, scheint mir beispielsweise ein Schritt in die richtige Richtung. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sich weder in Deutschland noch in anderen Ländern selbst- ständig eine Freundschaft zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen entwickeln wird, sondern allenfalls ein mehr oder minder friedliches Leben in Parallelwelten.
Du hast bereits eine Semesterarbeit zum Thema Miß- brauch/Gewalt an Frauen bearbeitet (»Gute Nacht, Zuckerpüpp- chen«). Das war ebenfalls kein »leichtes« Thema. Was reizt dich an schwierigen politischen Themen für deine gestalterische Arbeit?
Als Kommunikationsdesignerin möchte ich gerne anderen Menschen etwas mitteilen, eben kommunizieren. Häufig werden wir von einer Informationsflut überschwemmt, die eher daran hindert als animiert, gesellschaftlich und politisch relevante Themen näher zu be- leuchten. Wenn ich mich auf ein Projekt vorbereite, ist es mir sehr wichtig, eine umfangreiche Recherche-Arbeit zu leisten. Kernpunkte
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arbeite ich heraus und suche nach einem passenden gestalterischen Konzept. So möchte ich beim Betrachter eine fundierte Auseinander- setzung mit komplexen Inhalten vereinfachen und Interesse an ge- sellschaftlichen Problemen wecken.
Bei dem Projekt »Gute Nacht, Zuckerpüppchen«, das nach der gleichnamigen literarischen Vorlage der Autorin Heidi Hassen- müller entstanden ist, lag mir das Thema Kindesmissbrauch stark am Herzen. Hier habe ich versucht den Betrachter auf einer emotionalen Ebene zu erreichen. Ganz anders als bei der Arbeit »Keine Welt wie eine andere« bei der ich eine sehr nüchterne Haltung eingenommen habe. Bei jeder Arbeit und jedem Thema suche ich eine passende Sprache, immer mit dem Ziel Menschen zu erreichen. Ich möchte mit meiner Arbeit gerne eine Basis schaffen, sich sachbezogen mit schwierigen politischen Themen auseinander zu setzen.
Warum hast Du Dich für den Aspekt »Unterschiede« als Thema für Deine Arbeit entschieden?
Ich denke, es besteht ein grundsätzliches Problem darin, dass sich viele Menschen durch ihre eigene Angst vor dem Unbekannten daran hindern lassen, eigene sowie fremde Lebensweisen zu hinter- fragen und unvoreingenommen zu betrachten. Unterschiede, gerade im kulturellen und gesellschaftlichen Bereich, machen uns bewusst, dass nicht alle Menschen gleiche Ideale und Ziele im Leben haben, dass man auf vielfältige Art und Weise sein Glück aber auch sein Un- glück finden kann. Wer führt das »bessere« Leben? Wer ist »glück- licher«? Diese sehr subjektiven Fragestellungen können leicht dazu verleiten, die eigene »Lebensweise« zu idealisieren und die fremde zu verteufeln; sei es aus Selbstschutz oder Überzeugung.
In meiner Arbeit habe ich mir nicht das alleinige Ziel gesetzt,
Unterschiede zwischen Deutschen und Muslimen aufzuzeigen. Viel- mehr habe ich mir die Aufgabe gestellt, unterschiedliche Kulturen und deren Einfluss auf familiäres und gesellschaftliches Leben zu veran- schaulichen. Ich habe mich bewusst dazu entschieden, den deutschen und muslimischen Kulturkreis gegenüber zu stellen. Die deutsche Be- völkerung sucht in Religion und Glauben immer seltener Zuflucht; in Deutschland existieren Staat und Kirche beinahe unabhängig vonein- ander. Für mich war daher bei einer Gegenüberstellung der »westli- chen Welt« und des »Nahen Ostens« gerade nicht die Konfrontation zweier Religionen – Christentum und Islam – zielführend. Meine Ar- beit »Keine Welt wie eine andere« beschäftigte sich jederzeit mit der Betrachtung zweier Kulturen, die in unterschiedlichem Ausmaß durch ihre Religion geprägt sind.
Die Arbeit soll nicht dazu dienen, Muslime und Deutsche zu vergleichen, sondern die unterschiedlichen Lebensführungen neben- einander zu stellen. Gerade in Deutschland wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob die unterschiedlichen Lebensführungen von Deutschen und Muslimen überhaupt miteinander vereinbar sind. Hie- rauf suche ich in meiner Arbeit Antworten oder zumindest Ansatz- punkte für eine Diskussion.
Du hast Dich für einen neutralen Infografik-Stil entschie- den, der fast piktogrammartig ist. Wieso hast du dich für diesen Stil entschieden? Welche Arbeiten/Designer haben Dich beein- flusst/inspiriert?
Da ich eine möglichst vermittelnde und nicht wertende Rolle einnehmen wollte, war es mir besonders wichtig auch den grund- sätzlichen Gestaltungsstil meiner Arbeit diesem Ziel anzupassen. Der neutrale Infografik-Stil schien mir dafür besonders geeignet. Bilder
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als universelle Sprache sollten eine Vermittlerrolle einnehmen; Text hingegen nur als unterstützendes Element fungieren. Fotos wollte ich auf keinen Fall in meiner Arbeit verwenden um die Stereotypen des deutschen und muslimischen Kulturkreises nicht zu stark zu per- sonifizieren. Mit den fast piktogrammartigen Figuren habe ich mich besonders lange beschäftigt, habe auch hier versucht die Gradwan- derung zwischen Klischees und Realität zu meistern. Inspiriert wurde ich vor allem durch die Publikation »Ost trifft West« von Yang Liu. Die wirkungsvolle Kommunikation durch den Einsatz einer sehr reduzier- ten Bildsprache hat mich sofort beeindruckt. Daraufhin habe ich mich stärker mit dem Thema Infografik befasst. Das Buch »Information is beautiful« von David McCandless hat mir weitere Impulse für meine Arbeit gegeben. Nicht zuletzt ist es sehr inspirierend, in einem Kurs mit vielen anderen Gestaltern zu arbeiten. Man unterhält sich über die verschiedenen Projekte, gibt und erhält Kritik. Man bekommt viel Hilfestellung, sein Projekt, seine Herangehensweise jede Woche neu zu hinterfragen und in verschiedene Richtungen zu denken. Zu sehen, wie andere ihre Projekte bearbeiten und Schritt für Schritt weiterent- wickeln hat, für mich etwas sehr anregendes.
Beim ersten Durchsehen der Arbeit entsteht der Eindruck, streng nach Scharia lebende Muslime bewegen sich in einer fremd- bestimmten Welt voller Einschränkungen. Sind Dir bei der Recherche auch positive Aspekte der Kultur untergekommen. Vielleicht etwas, das im Westen fehlt?
Regeln grenzen unser Leben ein. Je mehr Regeln es gibt, je strenger wir uns an sie halten, desto stärker werden unsere Handlun- gen fremdbestimmt. So kann man schlussfolgern, dass streng nach der Scharia lebende Muslime eher ein fremdbestimmteres Leben führen als solche, die ihren Glauben weniger streng praktizieren. Die-
se Erkenntnis lässt sich nicht nur auf den muslimischen Glauben be- ziehen, sondern auch auf den christlichen. Streng gläubige Katholiken werden sich auch mit mehr Regeln und Einschränkungen konfrontiert sehen als »Gelegenheits-Christen«. Wenn man jedoch einen Streng- gläubigen fragt, ob er ein fremdbestimmtes Leben voller Kompromis- se führt, wird er dies wahrscheinlich verneinen. Warum? Weil er sich für seinen Glauben entschieden hat und mit seinen Regeln ein zufrie- denes Leben führen kann. Ob Muslime ihre Welt als fremdbestimmt bezeichnen würden, wage ich daher zu bezweifeln.
Positiv ist mir aufgefallen, dass im Nahen Osten noch ein viel stärkerer Zusammenhalt des Familienverbandes, im Sinne einer Großfamilie, existiert. Natürlich können auch hier Einschränkungen und Problemen entstehen, ich denke allerdings, dass Familie vor al- lem als Stütze gewürdigt werden sollte. Dass die familiäre Gemein- schaft auch in Deutschland einen Ort der Zuflucht bieten kann, sollte meiner Meinung nach nicht in Vergessenheit geraten.
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Ältere Familienmitglieder genießen in der islamischen Ge- sellschaft hohen Respekt, wohingegen in der deutschen Gesellschaft ältere Menschen als zunehmende Belastung empfunden werden. Für Muslime wäre es undenkbar, die Pflege von hilfebedürftigen Angehö- rigen öffentlichen Einrichtungen wie Altenheimen zu übertragen. Ich würde mir wünschen, dass diese Haltung gegenüber schwächeren Mitgliedern in der Gesellschaft auch in der westlichen Welt mehr An- klang findet.
Könntest Du Dir vorstellen, die Karten/Grafiken in größe- rem Rahmen einzusetzen um zu vermitteln (evtl. Einsatz in Schul- büchern, Kampagnen)?
Ziel meiner Arbeit war es, eine vermittelnde Rolle zwischen Deutschen und Muslimen einzunehmen. Gezeigt werden sollte, unter anderem, wo gesellschaftliche Unterschiede/Barrieren existieren und welche Möglichkeiten bestehen, diese Grenzen aufzuheben. Um ei- nen solchen Prozess weiter zu begleiten, wäre eine permanente Auf- klärungsarbeit hilfreich. Um das Verständnis für den jeweils anderen zu verbessern, muss man in die Lange versetzt werden, den Blick- winkel des jeweils anderen einzunehmen. Dies kann in unterschiedli- cher Intensität auch in verschiedenen Altersgruppen geschehen.
Es würde mich sehr freuen, wenn meine Arbeit dazu beitra- gen könnte, geeignetes Informations-/ Unterrichtsmaterial für diese Thematik weiter zu entwickeln. •
DAS INTERVIEW FÜHRTEN CLARA ROETHE
& PATRICK MARC SOMMER
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18. November 2011, München www.typotag.de
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Markus Nebel untersucht in seiner Diplom- arbeit »Psychogramm des Selbständigen« welche Faktoren für das erfolgreiche Gründen und Führen eines (Kreativ-) Unternehmens eine Rolle spielen. Dafür unterhält er sich mit bekannten Namen aus Deutschlands Design-Szene und dokumentiert diese Interviews. Er stellt Fragen nach Haltungen und Positionen und nach dem was Kreative antreibt und sie erfolgreich macht.
PSYCHOGRAMM–
Johannes Erler
MARKUS NEBEL
DES SELBST- STAENDIGEN
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Die Arbeit soll im Anschluss jungen Gestaltern als Entscheidungshilfe und Orientierung in der Zeit nach dem Studium dienen.
Wir haben Markus Nebel zum Gespräch gebeten.
Stell dich bitte kurz vor.
Geboren vor fast 30 Jahren in Köln und aufgewachsen im be- schaulichen Mainz, habe ich vor drei Jahren den berühmten Lebens- mittelpunkt nach Berlin verlegt. Eigentlich wollte ich im Jahr 2008 nur mein Praxissemester in Berlin machen, aber nach einem Jahr in Berlin war es schwer in Mainz wieder glücklich zu werden. Momen- tan befinde ich mich gerade in den letzten Zügen meines Diploms, das Ende November fertig sein muss. Zwischen Abitur und Studi- enbeginn habe ich eine Lehre zum Automobilmechaniker absolviert, anschließend ein Jahr in Montpellier gelebt und schließlich im Jahr 2006 mein Studium an der Fachhochschule in Mainz begonnen. Da ich besagtes Diplom auch an besagter Hochschule mache, habe ich in den vergangenen zwei Jahren knapp 40000 km (in Zeit: fast einen Monat) auf den Autobahnen A10, 9, 4, 7, 5 und 66, sowie A66, 5, 7, 4, 9 und 10 verbracht. Das hat dann am 23. November 2011 mit meinem Kolloquium endlich ein Ende.
Mit welcher Intention bist du an deine Diplomarbeit herangegangen?
Genau genommen gab es verschiedene Beweggründe für mich. Die ursprüngliche Idee war es als Designer auf die Walz zu gehen und so von den »alten Hasen« zu lernen. Ein zugegeben nicht ganz taufrischer Ansatz für ein Diplom, wie meine Recherchen erga-
Erik Spiekermann
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ben. Diese Idee bildete dennoch das Grundgerüst für die jetzige Aus- formung meiner Arbeit, ist der Kern doch derselbe geblieben: Lernen durch beobachten. Eine Grundmotivation war sicherlich auch mein Wunsch mich im Anschluss an das Diplom selbständig zu machen und so durch den Dialog mit anderen, bereits selbständigen Desig- nern herauszufinden, ob ich hierzu die nötige Eignung mitbringe. Zu dem, was das Diplom dann letztendlich geworden ist und noch wer- den wird, hat es die Zeit gemacht: das ständige Probieren, Scheitern und Justieren.
Was hast Du im Laufe deiner Diplomarbeit »Psychogramm des Selbständigen« gelernt?
Zu allererst, dass es sehr viel zu lernen gibt. Die Selbständig- keit und gerade die Gründung eines eigenen Büros oder der eigenen Agentur im weiten Feld des Designs, ist sehr facettenreich. Im Laufe der Zeit habe ich mich mit 28 selbständigen GestalternInnen unter- halten und versucht Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Eine Frage wäh- rend der Interviews war immer: »Welche Faktoren waren für deinen Erfolg verantwortlich?« Davon abgesehen, dass jeder Mensch Erfolg anders definiert, führten die Interviews zu einer Aufstellung von zehn Regeln und 25 Stichworten. Ich meine damit Begriffe, über die man immer wieder stolpert, wenn man sich über das Gründen und Führen von Unternehmen unterhält. Es ist also nicht leicht zu sagen, was ich genau dabei gelernt habe. Rückblickend ist es eher die Summe an Eindrücken, die auf mich gewirkt hat und mich so letztendlich in mei- nem Vorhaben für die eigene Selbständigkeit bestärkt.
Warum können vielleicht gerade Kreative nicht so gut zwischen Arbeit und Freizeit trennen?
Diese weit verbreitete Annahme kann ich nur in Teilen bestä- tigen. Man muss eingangs zwischen den verschiedenen Auslösern für das Fehlen dieser Trennung unterscheiden. Ein Faktor, der sicher im Zuge dieser Frage erwähnt werden muss, ist die Leidenschaft. Erfolgreiche Gestalter habe immer eine irgendwie geartete Form der Leidenschaft für ihre Arbeit entwickelt und diese lässt sich nun ein- mal nicht nach Feierabend abschalten. Der leidenschaftliche Typograf ist auch in seiner Freizeit an Schrift in jeglicher Form interessiert und von ihr umgeben. Dennoch haben vor allem die älteren Gestalter Wege gefunden, diese Trennung von Beruf und Freizeit wieder herzu- stellen. Leidenschaft ist sicherlich ein angenehmeres Motiv, als der zweite davon zu unterscheidende Faktor: Der wirtschaftlichen Not, die meiner Meinung nach viel zu häufig der eigentliche Auslöser für das Fehlen dieser Trennung ist. Lässt sich die Arbeit eben nicht in der eigentlichen Arbeitszeit bewältigen, muss sie eben mit in die so ge- nannte Freizeit übernommen werden. Somit ist es nicht die fehlende Fähigkeit zu trennen, als viel mehr das Fehlen der Möglichkeit einer Trennung.
Warum liegt der Fokus deiner Interviews auf der Kreativbranche und nicht auf anderen Bereichen?
Der Fokus liegt eigentlich ausschließlich auf Designern, die ihr eigenes Unternehmen, in welcher Form auch immer, gegründet haben. Aus dem einfachen Grund, dass ich das ebenfalls anstrebe und eine meiner selbst verfassten Regeln besagt: »Lerne von den Anderen.« Diese Regel leitet sich aus einem Ausspruch von Prof. Dr.- Ing. Dieter Wissussek ab, der damals das Diplom meines Vaters be-
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treut hat: »Meine Herren, konstruieren Sie nicht wild drauf los, son- dern schauen Sie, was die anderen bereits gemacht haben.«
Wie wählst Du deine Interviewpartner aus?
Anfänglich sah mein Konzept vor eine möglichst große Band- breite an Designern zu befragen, um anschließend einen repräsenta- tiven Querschnitt darstellen zu können: vom jungen Start Up bis zur lebenden Legende. Von dieser Strategie bin ich aber recht schnell abgekommen, da sich gezeigt hat, dass ein gewisses Maß an Er- fahrungen nötig ist, um zu überzeugenden Ergebnissen zu kommen. Rückblickend lässt sich feststellen: Je erfolgreicher die Gestalter wa- ren, um so spannender wurden die Interviews. Darüber hinaus lässt sich sagen, dass es leichter ist als man vermutet, auch bekannte De- signer zu einem Interview zu bewegen. Das liegt vermutlich am Beruf dieser Menschen; ist ein Interview auch nur eine bestimmte Form von Kommunikation, aber gleichzeitig PR in eigener Sache. Später mit einem Erik, Eike und Co. im Portfolio wurde die Akquise anderer Interviewpartner zusehend einfacher. Zum einen lag es vermutlich wirklich an den Namen der Designer, die ich bereits getroffen hatte, zum anderen ist es einfach Hartnäckigkeit. Wenn man nach der drit- ten Anfrage keine Antwort bekommt, muss man eben einen vierten Anlauf starten.
Sind Kreative gute Geschäftsführer / Unternehmer?
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Von denen, die ich getroffen habe, hatte ich den Eindruck, dass es zutrifft. So wie ich die Zahlen, die dazu vom BDG (www.bdg-designer.de) und anderen Berufsverbänden regelmäßig veröffentlicht werden, interpretiere, ist häufig auch das Gegenteil der Fall. Grundsätzlich ist das Gründen und
Andreas Uebele
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Führen eines Unternehmens ein kreativer Pro- zess und hat im Gegensatz zur landläufigen Meinung nichts mit Betriebswirtschaftslehre zu tun. Ob und in wie weit ein Designer sich auch zum Unternehmer eignet, hat weniger mit seiner Ausbildung zu tun, als viel mehr mit seiner Persönlichkeit. Am Anfang muss immer der absolute Wunsch stehen, sich auf das Wagnis der eigenen Selbständigkeit ein- zulassen, denn nur dann kann man auch den Ehrgeiz und die Hartnäckigkeit entwickeln, ohne die es nicht möglich ist dieses Ziel zu erreichen. Wer während seines Studiums in größeren oder kleineren Projektgruppen ge- arbeitet hat, kann sich jetzt rückblickend die Frage stellen, welche Positionen er in diesen Abläufen eingenommen hat. War man der Typ, der versucht hat die Führung zu überneh- men oder hat man sich schnell mit Aufgaben eingedeckt, um wieder alleine und in Ruhe zu arbeiten? Zusammenfassend kann man sage: Im Kern ist es immer eine Charakterfrage, aber das Rüstzeug, das uns die Ausbildung mitgibt, ist auf jeden Fall das Richtige.
Welche Tipps kannst Du selbständigen Designern geben?
Hier muss ich zuvor zwischen selbst- ständigen Designern, die als Freelancer arbeiten und solchen, die ein eigenes Un- ternehmen planen oder bereits führen, unter- scheiden. Der ersten Gruppe, mit der ich mich während meines Diploms nicht beschäftigt habe, kann ich höchstens raten, dass sie über- prüfen sollten, in wie weit sie wirklich selbst- bestimmt arbeiten. Mit möglichen Tipps, die ich der zweiten Gruppe geben kann, bin ich ebenfalls sehr vorsichtig, da sie sich bis jetzt nur in meinem Kopf bewährt haben. Eine Sa- che kann ich aber uneingeschränkt empfeh- len: Man muss sich seine eigenen Gedanken zu diesem Thema machen, mit anderen Un- ternehmern reden und das ein oder andere Buch lesen, bevor man anfängt teure Räume zu mieten oder noch viel schlimmer, einen Ar- beitsvertrag zu unterzeichnen. Denn was ich, auch ohne die Erfahrung selber gemacht zu haben, als hinderlich für das Gründen eines eignen Unternehmens ausgemacht habe, ist das Angestelltenverhältnis. Denn einmal ein- gegangen ist es schwer, sich wieder davon zu lösen. Andererseits sind mir auf meiner Reise ebenso viele Designer begegnet, die eine gegenteilige Position vertreten. Für sie
war es sehr wichtig und vorteilhaft zuvor als Angestellter Erfahrungen gesammelt zu ha- ben. Abgesehen von dieser Grundsätzlich- keit, ob eine Anstellung als Vorbereitung nun richtig, wichtig oder falsch ist, rate ich allen, die sich mit dem Gedanken tragen eine ei- gene Unternehmung zu starten, ehrlich mit sich selbst ins Gericht zu gehen und wenn der Entschluss gefallen ist, dieses Ziel mit großer Beharrlichkeit zu verfolgen.
Was wirst du mit den Interviews machen? Wie wird das Ergebnis deiner Diplomarbeit aussehen?
Wie bereits in den vorangegangenen Fragen angerissen, habe ich aus der Summe der Eindrücke und Erkenntnisse, zehn einfa- che Regeln abgeleitet. Diese werden durch entsprechende Auszüge aus den Interviews belegt und diskutiert. Zusätzlich versuche ich immer den Gestalter, der mich zur ent- sprechenden Regel inspiriert hat, dazu zu bewegen einen Text zu verfassen. Darüber hinaus gibt es eine Sammlung von 25 Be- griffen (Bsp.: Begriff: Partner: http://vimeo. com/29192252), die immer wieder gefallen sind und denen daher ein Relevanz zukommt. Diese Begriffe verweben sich mit den zehn Regeln und den Interviewtexten zu einem
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Raban Ruddigkeit
Teppich an Informationen, Positionen und Geschichten: dem Psycho- gramm des Selbständigen. Als Endprodukt entsteht aus diesem Ma- terial ein Taschenbuch, das durch ein iPhone-basiertes Interface mit den angefallenen digitalen Medien vernetzt wird. Da das inhaltliche Rückgrat der gesamten Publikation über 30 Stunden Interviewmateri- al ist, war es mein Wunsch, diese sehr persönlichen Eindrücke, auch in ihrer ursprünglichen Form, dem Leser zur Verfügung zu stellen. Auf der Suche nach geeigneten Möglichkeiten weitere digitale Inhalte ne- ben den Tonspuren an das gedruckte Wort zu koppeln, habe ich mich mit der Entwicklung eines digitalen Quellenverzeichnisses in Form ei- ner iPhone App auseinandergesetzt. Auf gestalterischer Ebene setze ich mich während meines Diploms mit dem klassischen Printmedium und dessen Zukunft in einer zunehmend digitaler werdenden Welt, auseinander. Meiner festen Überzeugung nach, wird es das gedruck- te Buch auch noch in ferner Zukunft geben, nur die Art wie es sich zur digitalen Wirklichkeit verhält, wird sich schon in naher Zukunft radikal verändern. Inhaltlich soll die Arbeit GestalterInnen, die der Wunsch nach Selbständigkeit verbindet, als Entscheidungshilfe und Orientie- rung dienen.
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WWW.MARKUSNEBEL.DE
DAS INTERVIEW FÜHRTEN NADINE ROSSA &
PATRICK MARC SOMMER
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DENKEN MIT
DEM WISSEN
VON GESTERN
VON MORGEN Interview mit Prof. Heik Afheldt
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FUER DIE CHANCEN

Zukunft gestalten für die Allgemeinheit – eine Aufgabe die Einiges an Verantwortungsbewusstsein, Kreativität und Fan- tasie verlangt. Sensibel muss mit Erfahrungen aus der Vergan- genheit umgegangen, Trends oft weit unterhalb der gesellschaft- lichen Wahrnehmungsschwelle aufgespürt werden. Neuerungen sollen Zukunft haben und nicht nur Utopie bleiben. Warum Zu- kunftsforschung als Studienfach an einer Institution Raum findet, die keine Politiker, Ingenieure oder Mediziner, sondern Künstler, Modedesigner, Grafiker und Produktdesigner ausbildet, erklärt Heik Afheldt, Professor für Zukunftsforschung an der Kunst- hochschule Berlin, plastisch mit vielen Beispielen. Die Methoden dieser Forschungsdisziplin, auf den ersten Blick abstrakt und kompliziert, nutzen wir tagtäglich für unsere persönliche Zu- kunftsgestaltung. Wir werten Vergangenes aus, wir träumen, wir denken nach, wir handeln. Eins ist dabei gewiss: Zukunft – dem- nächst auch in unserer Gegenwart!
»Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Bei- spiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschafft einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergan- genheit und mache einen zum Clown der Zukunft.« (aus: Die Vermes- sung der Welt, Daniel Kehlmann)
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Herr Afheldt, was bleibt übrig von Utopien in Büchern und Filmen, wenn es darum geht Zukunft zu kreieren? Unter welchen Parametern kann aus einer Utopie ein Produkt werden, das sich seriell und industriell umsetzen lässt und nicht
nur als Skizze, Modell oder literarische Vision existiert, sondern sich wirtschaftlich etabliert und zum allgemeinen Wohlstand beiträgt?
Grundsätzlich gilt, dass sich technische Visionen viel leich- ter und zuverlässiger umsetzen lassen als gesellschaftliche Utopien! Die Frage nach der Gestaltung eines Sozialstaats ist viel schwieriger zu beantworten. Aber von den gegenständlichen Ideen ist fast alles, was mal vorgedacht wurde, von den Robotern aus frühen Science Fiction Romanen, bis zur Raumfahrt, umgesetzt worden. Ein Studien- projekt, das ich ganz besonders toll finde, hat sich mit der Beziehung zwischen Realität und Science Fiction befasst. Warum entstehen zu bestimmten Zeiten bestimmte Science Fiction Produkte? Was ist aus den Ideen, die in diesen Stoffen enthalten sind, in der Realität gewor- den? Ist manches davon real geworden oder ist alles Fiktion geblie- ben? Wahnsinnig schöne Arbeiten!
Ich habe gerade zwei Diplomarbeiten betreut. Die eine dreh- te sich um die Weiterentwicklung der Rettungshubschrauber zu mobi- len Praxen, um den Ärtztemangel in immer mehr, wenig besiedelten Gebieten auszugleichen. Also stellte sich die Frage: Wie versorgen wir die Menschen dort medizinisch? Der Hubschrauber ist das Fort- bewegungsmittel, mit dem man überall am besten hinkommt, also müssen wir den so umgestalten, dass er zum kompletten Behand- lungszimmer wird. Ich bin mir sicher, dass der Designer seine Idee demnächst irgendwo fliegen sieht!
derne Nomaden. Ein Koffer, der nicht nur selbst rollt, sondern auf den man aufsteigen und die wahnsinnig langen Gänge in den Flughäfen entlangfahren kann. Wird das Realität? Samsonite interessiert sich jetzt für dieses Produkt und es sieht so aus als ob es relativ rasch umgesetzt wird.
Welche Aufgabe haben sie als Professor für Zukunfts- forschung innerhalb dieser Projekte?
Ich bin an einer Kunsthochschule tätig, die nach dem Bauhaus Prinzip gestrickt ist, an der die ersten zwei Semester eine Art Studi- um Generale darstellen, die ich mit angewandter Zukunftsforschung erweitere. Was wir machen ist zum Beispiel dreißig Jahre voraus- schauen. Berlin 2039, was wird sich dann wie verändert haben? Wir betrachten nicht nur gängigeThemen wie eine veränderte Altersstruk- tur – also sehr viel mehr Höchstbetagte – auch ein anderes Sozial- leben, eine andere Familienstruktur, verändertes Reiseverhalten. Ich denke, das beflügelt den einen oder anderen, wie zum Beispiel Alex- andra Kiesel, eine ehemalige Modeschülerin, die gerade Preisträgerin geworden ist, auf diese Erkenntnisse mit ihren Arbeiten einzugehen. Sie hat eine Kollektion gemacht, in der sie sich vorstellt, wie im Jahre 2039 die Männer und Frauen gekleidet sind. Auch unter der Frage- stellung, ob es dann überhaupt noch die Bekleidungsunterschiede zwischen Frauen und Männern gibt. In ihrer Kollektion hat sie die Idee des Prosumenten umgesetzt. Wie Ikea-Kunden kauft man nicht fertige Konfektion, sondern fertigt sie zum Teil selbst. Die Einzelteile bestellt man im Internet und näht sie dann daheim zusammen. Ein Beispiel für angewandte Zukunftsforschung.
Die zweite Arbeit drehte sich um einen neuen Koffer für mo-
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Warum hat die khb eine Professur für Zukunftsforschung eingerichtet? Was war die Begründung der Kunsthochschule
für diese Professur an sie heranzutreten?
Ich glaube wie so viele Innovationen, entstand auch diese eher zufällig. Die Pforte zur khb hat die Frage geöffnet, ob ich den Vorsitz des Fördervereins der Kunsthochschule Berlin übernehmen wollte, der Mart Stam Gesellschaft. Ich habe selber in frühen Jahren – als ich noch nicht wusste, das ich ein nüchterner Ökonom werden würde – überlegt, ob mir Architektur oder Design Spaß machen wür- de. Nach der Überlegung, dass ich auf Grund meines recht großen Netzwerkes der khb in diesem Bereich helfen kann, bin ich vor 12 Jahren Vorsitzender des Fördervereins geworden, mit dem wir zum Beispiel den Mart Stam Förderpreis vergeben, durch den wir jedes Jahr die besten Diplomarbeiten mit einem Katalog auszeichnen und eine Ausstellung machen, mal in der Berlinischen Galerie, in der IHK- Zentrale, bei BMW MINI.
Kurz, ich habe immer versucht, die etwas dezentral, in Weis- sensee gelegene Kunsthochschule ins Zentrum von Berlin zu holen. Dabei haben sich immer sehr gute Beziehungen ergeben. Da ich auch sehr viel mit Stadtentwicklung zu tun hatte – damals gab es noch eine Architektur-Falkultät unter Rainer Ernst – stellte sich die Frage, ob ich nicht einige von den Sachen, die ich über zukünftige Sachen gesagt habe, direkt mit in den Lehrbetrieb einbringen könnte.
Seitdem veranstalte ich jährlich zwei Zukunftswerkstätten. Zum Beispiel die zum Thema: Geht Berlin an zu viel Kreativität zu Grunde? Referenten waren Frau Mayer-Johanssen von MetaDesign und Jürgen Zöllner, der Berliner Kultursenator. Das war eine sehr le- bendige und wunderbare Diskussion.
So ist diese Professur entstanden. Da kam nicht ein soge-
nannter Beauftragter für die Modernisierung des Lehrprogramms, der gesagt hat, bei uns fehlt doch eigentlich Zukunftsforschung, dieses Thema ist gewachsen. Das erforderliche Gutachten dafür wurde vom damaligen Präsidenten der Freien Universität, Dieter Lenzen erstellt, der sagte: Etwas Besseres könne der Kunsthochschule Berlin gar nicht passieren, als das sie dieses Thema in Ihr Programm aufnimmt!
Ich sehe eine starke Verbindung zwischen dem Beruf
des Gestalters und meiner Auffassung von einer dynamischen und aktiv verursachten Zukunft. Ich habe wenig zu diesem Thema recherchiert, dafür mehr nachgedacht …
Das ist manchmal auch ganz gut.
… und habe mir vorgestellt, was Zukunft eigentlich be- deutet. Nur für sich betrachtet ist Zukunft doch ein recht tristes Los für jegliche Materie, führt unweigerlich zu altersbedingtem Verschleiss und Zerstörung. Verfolgt also Zukunftsforschung das Ziel, diesem zeitlich bedingten Verfall entgegenzuwirken und ist sie deshalb auch so gut in der Lehre von gestaltenden Berufen, wie Produktdesign, Modedesign im weiteren Sinne auch Kommuni- kationsdesign anzuwenden.
Es gibt Menschen, wie etwa Michael Naumann, der gesagt hat: Zukunft ist ja eigentlich für uns alle etwas furchtbar Trauriges, denn unser Leben endet. Also warum interessiert man sich trotzdem für Zukunft? Ich glaube die entscheidende Antwort ist, der Anspruch, ja sogar die Erwartung, dass Zukunft nicht nur passiert, sondern dass sie gestaltbar ist. Beispielhaft dafür ist das Gebet von Wilhelm von Oranien: »Herr gib mir die Kraft zu ertragen, was ich nicht ändern kann und gib mir den Mut zu tun, was ich tun kann, damit sich et-
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was ändert.« Ich glaube dieser Anspruch ist einer der entscheidenden Gründe, warum es heute wissenschaftliche Zukunftsforschung gibt.
Und wie erforscht man Zukunft nun?
Es passiert mir oft, dass ich Leute frage: »Was haltet ihr ei- gentlich von Prognosen?« Dann rümpfen sie die Nase und sagen: »Na so viel nicht!«
Und wenn ich frage: »Was haltet Ihr vom Klimawandel?« «Wahnsinnig gefährlich, da müssen wir was tun!« Doch auf welchen Erkenntnissen basieren die Aussagen zum Klimawandel? Das sind alles Prognosen. Nichts davon ist gesichert.
Das sind ganz komplizierte Modelle, in denen Annahmen ste- cken und wir versuchen diese komplexen Systeme zu modellieren, um zu sehen, was passiert. Verändert sich etwas oder nicht. Das ist sozusagen das Werkzeug. Am Anfang stehen die Bauernregeln und am Ende stehen diese ganzen wahnsinnig komplexen Modelle. Beide Methoden haben ihren Zweck, für den Bauern die Ernte pünktlich ein- zufahren, und für uns um zu erklären, CO2 ist der Übeltäter und wir müssen etwas tun, damit davon weniger in die Luft kommt. Das sind Prognosen, die auf Wenn-Dann Annahmen basieren.
Ich unterscheide zwischen Uhrensystem und Wolkensystem (Karl Popper). In Uhrensystemen sind funktionale Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Faktoren exakt definiert. Deshalb wissen wir, dass morgens die Sonne aufgeht und wann Ebbe und Flut ist. Wolkensysteme sind Phänomene, die uns auch wahnsinnig interes- sieren. Sie beschreiben das Wetter aber auch wirtschaftliche und ge- sellschaftliche Entwicklungen. In ihnen sind die Zusammenhänge so komplex und schwierig zu durchschauen, das wir nur die Muster er- kennen können aber nicht die Ursachen. Wir können allenfalls unter-
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suchen ob es schon mal die gleichen Zustände gab. Beim Blick in un- sere Parallelcomputer können wir dann sagen, das gab es schon mal am soundsovielten, im Jahre sowieso und was am darauffolgenden Tag stattfand und welche Situationsabfolge herrschte, von der wir auf eine ähnliche, zukünftige Entwicklung schliessen können. In diesen Wolkensystemen kann man eher von analogen Mustern ausgehen, die man nicht begründen kann.
Begründung ist ja ohnehin ein großes Wort um Abfolgen, Umstände und Zustände zu verifizieren, und daraus verlässliches Wissen zu machen.
Wir sind ja auch aufgeklärte Leute und müssen Alles irgend- wie belegen können.
Genau und trotzdem! Wenn ich an Wissen denke, fällt mir gleich das Wort Dogma ein, das vom Denken abhält und zu Stagna- tion führt. Was mich zu der Frage führte: Wieviel Wissen verkraf- tet unsere Zukunft? Was bedeutet etabliertes, gesetztes Wissen für sie, wenn wir doch den Anspruch haben, die Zukunft besser zu gestalten, als die Gegenwart ist und die Vergangenheit war?
Wissen ist, so sehe ich es, nie ein Hemmnis für den Fort- schritt. Wenn man bereit ist das Wissen in Frage zu stellen. Das Buch »Die Vermessung der Welt« zeigt das so wunderbar. Jahrhunderte- lang glaubte man im Inneren der Welt wird es immer kälter: das war das Dogma, das angebliche Wissen. Dann kamen Herr Humboldt und Herr Gauß und stellten fest: Es wird immer wärmer je weiter wir nach unten graben. Das war ein neues Wissen, das hatte Recht, das hat sich durchgesetzt. Wenn ich heute überlege, was hilft mir Wissen bei der Zukunftsforschung? Dann habe ich eben ein Beispiel genannt
bei dem wir frühere Ereignisse, früheres Wissen nutzen können um a) die Frage besser zu beantworten ,wie sich etwas entwickelt ohne das wir etwas tun. Und b) zu erörtern, was wir tun könnten. Das ist die Archäologie der Zukunft. Wieder schauen wir, was haben die Menschen früher gedacht und hatten sie recht oder lagen sie falsch? Was waren die Gründe dafür, dass sie so gedacht haben? Aber Ihre Frage hat ja den Anschein erweckt als ob es auch ein Wissen gäbe, das Zukunft verhindert.
Ich habe die Frage absichtlich etwas provokant formu- liert. Einerseits mittelalterliche Zustände andeutend, anderer- seits um die umfassende geistige Trägheit anzusprechen, die an- gebliches und auch verlässliches Wissen nach sich ziehen kann.
Sie haben auch Recht. In unsere aufgeklärte Gesellschaft pas- sen Ahnungen nicht so gut wie Begründungen. Wir haben eine Art von Kommunikation etabliert ,in der wir dem anderen belegen müssen, warum etwas so ist wie es ist. Ich arbeite in einer Institution,die Kre- ative ausbildet und denke, das Thema Zukunft muss ein grosses krea- tives Portal haben. Eins was hinterfragt. Wo man sagen darf: Ich kann das nicht erklären aber ich ahne etwas! Dieser Mann, von dem der Begriff der Archäologie der Zukunft stammt, ein französischer Künst- ler und Nouveau Realisté – Arman (Armand Fernandez) hat gesagt: »Wir Künstler wissen besser als Ihr Soziologen und Gesellschafts- wissenschaftler, was die Folgen der industriellen Massenproduktion sein werden.« In den sechziger Jahren hat er riesige Abfallberge in Kunstharz gegossen, um klarzumachen, was wir da produzieren an industriellem Überfluss, an Abfall. Er hat mit Renault zusammenge- arbeitet und dargestellt, was diese unendliche Produktion an redun- danten Teilen eigentlich bedeutet für unsere Umwelt. Auch Beuys und
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Leonardo da Vinci haben schon gesagt: »Wir Künstler sind die besse- ren Futurologen. Wir können es zwar nicht begründen, aber wir ahnen was passiert.« Die Chinesen haben ein 5000 Jahre altes Vorhersage- system, I Ging, auf Yin und Yang basierend, dass verzichtet auf die Kausalität sondern benutzt Spielsteine und erarbeitet damit Zukunft. Dieses System, auch ein Thema dieses Sommersemesters, ist für uns nicht richtig zugänglich. So wie wir nicht wissen warum, wenn ich mit Nadeln in das Nervensystem steche, ein Mensch gesund wird oder seine Schmerzen nachlassen. Wir haben eine aufgeklärte Schul- medizin und andere Kulturen haben eine andere, nicht im Einzelnen belegbare Ansicht über das Funktionieren von Systemen, in dem Fall des Körpers. Es gibt eine Grafik mit dem Titel: Wie entsteht Zukunft? Darin ist ein Gehirn dargestellt, damit werden die Erfahrungen aus der Vergangenheit gescannt und die Fantasie wird für die Zukunfts- ideen die daraus entstehen werden, genutzt, um Zukunft zu kreieren. Und dann schaue ich, wenn ich nicht nur Science Fiction Autor bin, sondern beispielsweise Politiker, was kann ich davon realisieren, wie kann ich Einfluss nehmen. So sehe ich auch meinen Part im Berufs- leben, wie kann ich Einfluss nehmen? Ob als Herausgeber mit dem Schreiben von Editorials und der Hoffnung, dass die Politik oder die Wirtschaft mich hört oder auch früher als Berater bei Prognos, einem zukunftsorientierten Forschungsunternehmen in Basel.
Was bringen Sie auf der persönlichen Ebene mit, welche fachlichen Kompetenzen befähigen Sie, um meinungsbildend und progressiv Einfluss nehmen zu können, als Wirtschaftsexperte, als Journalist und Herausgeber und jetzt als Zukunftsforscher? Welche Vorraussetzungen mussten sie denn erfüllen um über- haupt Zukunftsforschung lehren zu können?
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Der Eintritt in die Zukunftsforschung, die auch dem Lebensun- terhalt dient, war meine Entscheidung von Brüssel bei der EU-Komis- sion zu Prognos zu gehen, einem Basler Unternehmen in Beratungs- funktion für zukünftige Entwicklungen von Städten, Unternehmen, und Regionen. Projekte wie Studien über die Wirtschafts- und Be- völkerungsentwicklung der Region Karlsruhe oder Zürich erforderten Werkzeuge, wie Simulationsmodelle. Wir haben das also nicht nur gedacht, sondern dargestellt, damit man auch mit politischen Maß- nahmen eingreifen konnte.
Das mussten auch visualisierte Darstellungen von prognostizierten Entwicklungen sein, nicht nur Auflistungen von Zahlen?
Ja. Wenn es politisch wirksam sein soll, muss der Ansatz auch einem Wirtschaftssenator oder Bürgermeister oder Bauminister plausibel sein.
Warum ist Visualität effektiver als Sprache?
Das ist die Frage der kognitiven Fähigkeiten und die ist ja schon durch eine Reihe von Sprichwörtern hinlänglich belegt worden. Durch Bilder kann man einer Aussage eben weitaus mehr Impact verleihen. Ich habe gerade einen Vortrag gehört von der Leiterin der Berliner Bürgerstiftung. Die hat so viel Zahlen vorgelesen, hochin- teressant, aber bei der Vortragsweise kannst du nur sagen: Schon vergessen. Im Gegensatz dazu sind dynamische Grafiken die eine Veränderung im Laufe der Zeit animiert visualisieren, didaktisch so viel interessanter. Die visuelle Umsetzung von Prognosen ist ein ganz entscheidender Punkt um Diskussionen über Zukunft fruchtbar zu machen.
Ich finde den Aspekt sehr interessant, dass uns Dinge,
die visuell, besser noch haptisch, erfahrbar sind, viel plausibler erscheinen als verbal getroffene Aussagen.
Noch entscheidender ist, das Aussagen diskutierbar sind und nicht nur ex cathedra verkündet werden: So ist es! Das zeigen unsere Modelle! Dann hängt die Glaubwürdigkeit fast mehr vom Charisma des Vortragenden ab als von den Fakten. Es geht darum aus seinen Analysen und deren Ergebnissen ein Diskussionsangebot zu machen. Es gibt ja nicht die eine richtige Meinung über das was kommt, aus zwei entscheidenden Gründen nicht a) Die Status Quo Prognose: Kei- ner weiss was käme, wenn Alles sonst so bliebe wie es bisher war. Das sind immer nur positive Hypothesen, manchmal in sich schlüssig oft aber nicht mal das. B) Keiner weiss, was du noch alles tun kannst, damit der Status Quo nicht eintritt.
Herman Kahn war ein berühmter Zukunftsforscher. Der hat unterschieden zwischen seinen überraschungsfreien Prognosen und sich dann vorgestellt, welche unvorhergesehen Situationen eintreten könnten, die seine Prognosen über den Haufen werfen könnten. Ak- tuelle Beispiele dafür sind Fukushima oder die Euro-Krise. Obwohl die Begeisterung über das Wirtschaftswachstum Anfang des Jahres groß war, sind die Zukunftsängste momentan sehr groß. Man kann Varianten annehmen, doch die Welt in 1000 verschiedene Szenarien zu zerlegen, wäre nicht mehr hilfreich, es entsteht kein Bild mehr.
Wie effektiv ist dann die konkrete Planung von Zukunft, die auf Wissen und Erfahrung aufbaut, wenn sie sowieso extrem vielen Zufällen unterliegt? Und die Frage, die ich in dem Zu- sammenhang noch interessanter finde: Wie entsteht Zukunft nun tatsächlich, durch Planung oder durch Zufall?
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Es ist immer eine Mischung, wie in einem guten Teig. Man kann nicht sagen entweder passiert alles durch Planung oder Zufall. Das ist eher etwas was zusammengehört. Die Frage ist: Kann ich mir für den Bereich der geplanten Zukunft mehr Freiräume und Ge- staltungsmöglichkeiten schaffen? Darauf kann ich antworten: Ja, das kann ich! Ich nehme mal das Beispiel am steigenden Meeresspiegels um die Niederlande und was Holland aus diesem Phänomen macht. Es gibt die Möglichkeit die Prognosen des Klimawandels zu negieren, oder sie ernst zu nehmen, und beispielsweise die Deiche zu erhöhen, die Fundamente zu stärken. Vielleicht können auch neue Arten von Städten entwickelt werden, die schwimmen. Dann steigt das Wasser und unsere Häuser eben auch. Wir können versuchen durch Gestal- tung und Produktentwicklung auf beginnende Probleme einzugehen um sie abzuwenden.
Wir sind dabei einen riesigen Sprung in eine post-Kohlendi- oxid-Epoche zu machen. Das ist geplant und kein Zufall und fusst auf relativ seriöser Zukunftsforschung. Um Rohstoffdezimierung und Um- weltverschmutzung entgegenzuwirken, verwindmühlen wir die Ge- gend und versuchen soviel wie möglich Solarpaneele an die Gebäude zu montieren.
Dabei bleibt es oder forscht man auch über die Nachtei- le alternativer Energiegewinnungsmethoden? Es gibt doch auch Gegenmeinungen zur Verwindmühlung von riesigen Flächen, die anders nutzbar wäre, auch weil die Windräder optisch schlicht- weg eine Zumutung seien. Welche Gremien haben denn dafür die Entscheidungsbefugnis? Wer entscheidet welche Ergebnisse von Zukunftsforschung ernst genommen und umgesetzt werden und welche nicht?
Niedrige und zentralere Entscheidungssysteme nehmen Ein- fluss auf die Entscheidung, wie mit Warnungen oder Ergebnissen, die Zukunftsforschung hervorgebracht hat, umgegangen wird, wie sie umzusetzen sind und welche Konsequenzen daraus gezogen werden. Denn Entscheidungen sind eben nicht nur wissens- sondern auch in- teressenbasiert.
Wieviel Bedeutung messen Sie, auch in Bezug auf diese Entscheidungsfindungen, den gestaltenden, kreativen Berufen in der Zukunftsschöpfung zu?
Eine viel, viel größere als sie heute wahrgenommen wird. Ich beginne mit dem internationalen Wettbewerb. Wir leben in einer mul- tikulturellen Welt der Märkte. Beispiele wie Apple oder früher Braun zeigen wie wichtig es ist, dass die Überzeugung des Kunden nicht über Sprache oder Marken – wie Siemens – sondern über Gestaltung abläuft. Gestaltung ist ein sehr vordergründiger aber nicht minder wichtiger Aspekt. An der khb studieren 30% internationale zukünftige Gestalter und durch die lernen wir quasi eine Esperanto-Gestaltung. Das soll nicht nur globalisiertes Design zur Folge haben, sondern auch mehr In- dividualisierung. Es gilt eine besondere Designsprache zu entwickeln, und weiter zu führen. Was neu hinzukommt zum Produktdesign ist das Kommunikationsdesign. Wir können nicht mehr nur in Hardware – Mö- bel, Autos – denken. Wir müssen uns in der Internetwelt darstellen und individualisieren. Wir haben heute eine Reihe von Exzellenzinitia- tiven und sind sehr überzeugt davon die Natur- und Ingenieurwissen- schaften zu fördern. Ich glaube das der kreative Sektor der Bildung mindestens genauso viel Aufmerksamkeit benötigt, sehe hier aber kei- ne Exzellenzinitiative, auch nicht viele Fördergelder für die Verbreitung, Verbesserung und Intensivierung dieser Studiengänge.
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Der Produktdesigner ist nicht ausschliesslich nur für die äußere Ästhetik eines Produktes zuständig.
Nein, im Gegenteil! Wenn man sagt: Wir können nur soviel auf den Weltmärkten verkaufen wie wir besser sind als die anderen. Dann sage ich: Zu dem Besseren gehört auch das Design! Ganz ent- scheidend ist das Durchdenken von Produkten, Maschinen, medizi- nischen Apparaten. Aus der Automobilindustrie weiss man, welche Rolle Design spielt, aber das Gleiche gilt auch für eine Zahnbürste.
In welche Disziplinen werden die Produktdesign Studen- ten der khb als Berufsdesigner mal gehen. Die werden doch nicht alle Möbeldesigner?
Ich würde sagen »querbeet«, ich habe einen gewissen Über- blick, bin aber nicht der Produktdesign Professor. Ich messe auch den Studiengängen Modedesign und Textildesign große Bedeutung zu. Besonders was den Aspekt der Technologie und Kommunikations- möglichkeiten, die über Stoffe und Textilien gegeben werden, betrifft. Ich glaube übrigens nicht das die Designdisziplin interessant ist, son- dern die Frage nach der Designaufgabe. Bei fast allen Studierenden an unserer Hochschule spielt ein gesellschaftliches Motiv eine Rolle, nicht nur die Frage wo verdiene ich am meisten Geld, sondern wo ist ein sinnvoller Ansatzpunkt für meine Tätigkeit.
Dafür ist die khb bekannt. Ich kenne einige Absolventen, zum Beispiel das Team von anschlaege.de, die waren auch Mart Stam Preisträger. Diese Gestalter-Gruppe behandelt doch Design auch mehr oder weniger als Forschungsmethode und macht nicht nur hübsch sondern besser.
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Ja, die sind ein sehr gutes Beispiel, die sind genau so wie es sein muss. Die denken nicht in vorgefertigten Kästen sondern quer.
Das Thema der Zukunftswerkstatt: Geht Berlin an zuviel Kre- ativität zu Grunde hatte folgenden Hintergrundgedanken: Es ist wun- dervoll viele Ideen zu haben, aber die Welt wird nicht von vielen Ideen verändert sondern durch ihre Umsetzung. Ein Freund sagte früher mal: Innovation ist erst wenn der Markt Hurra schreit!
Und wann schreit der Markt Hurra? Was kann Zukunftsfor- schung in diesem Bereich leisten ausser Erfahrungen auszuwerten? Am Beispiel Demografie lässt sich das gut erklären. In eini- gen Jahren haben wir statt 3 Mio Höchstbetagter, 9 Mio, eine ver- dreifachte Anzahl. Also muss man über Mobilität reden. Hybridfahr- zeuge wären in dem Zusammenhang interessant. In dem Vortrag über Stadtentwicklung bei dem ich gestern war, wurde auf dieses Thema gar nicht eingegangen. Sie haben lange über zukünftige Mo- bilität in Berlin referiert. Alte Menschen und Höchstbetagte kamen in diesem Zusammenhang gar nicht vor. Wir sollen alle zu Fuss gehen oder Fahrrad fahren. Ein wirklich alter Mensch kann weder zu Fuss gehen noch Fahrrad fahren. Also muss man sich ein Verkehrssystem denken, in dem viele motorisierte Rollstühle Platz haben. Dafür muss ein entsprechendes Wegesystem entwickelt werden. Wann schreit der Markt Hurra? Wenn ich so etwas vorausdenke, dafür eine Idee
entwickle und damit ein gesellschaftliches Bedürfnisse befriedige.
Geben sie doch zum Schluss noch eine Prognose ab. Wann schreit der Markt das nächste mal Hurra! Herr Afheldt?
Ich nenne mal zwei Beispiele wo ich mir ziemlich sicher bin. Das eine ist die Tele-Medizin. Ich bin überzeugt davon, dass wir in
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Kürze Systeme haben, in denen wir in sehr viel stärkerem Maße als heute mit neuen Kommunikationsmitteln den Patienten medizinisch überwachen, also zum Beispiel mit Blutdruckmessungen, Herzfre- quenzmessungen, und ihn auch mit Therapien versorgen können.
Über Bildschirme?
Über kleine Apparaturen die bestimmte Messungen durchfüh- ren, Blutdruck, Herzfrequenz, Blutzucker. Dann gibt es eine Zentrale, die Ihnen mitteilt wann Sie sich mit neuen Medikamenten versorgen müssen, die Ihnen über Online-Versand-Anbieter zugesandt werden. Die Medikamente kommen dann zu Ihnen ins Haus. Und zweitens bin ich davon überzeugt, dass alles was unsere Antriebsaggregate für Fahrzeuge betrifft, wir uns viel zu konventionelle Gedanken machen. Da muss noch viel mehr an innovativen Ideen her. Wenn man sich vorstellt, was wir in den vergangenen Jahrzehnten für Entwicklun- gen durchgemacht haben. Ein gutes Beispiel ist meine Mutter, Jahr- gang 1895. Wenn heute so viele Leute in viel beklatschten Vorträgen sagen, es hat noch nie so viele Veränderungen wie heute gegeben, dann sehe ich mir das Leben dieser Vorfahrin an und die Neuerungen, die sie miterlebt hat: Automobil, Flugzeug, Radio, Elektrizität, Fernse- her, Fernheizung. Alles, was sie miterlebt hat, war neu. Eine derartige Menge an Innovationen,- und bei allen hat sie möglichst versucht, das erste Produkt zu bekommen.
Ihre Mutter war ein Early Adopter!
Ja! Und vielleicht – weil sie eingangs gefragt haben, woher ich dieses Zukunftsgen habe – es könnte gut sein, dass sie es mir vererbt hat. •
Zur Person
Prof. Dr. Heik Afheldt (1937) ist Vor- standsvorsitzender der Mart Stam Gesell- schaft, Professor für Zukunftsforschung an der Kunsthochschule Berlin und Publizist. Er war u.a. Herausgeber des Tagesspiegels und der WirtschaftsWoche und wirtschaftspu- blizistischer Berater für die Zeit (und vieles mehr).
DAS INTERVIEW FÜHRTE
ULRIKE DARAGHMA
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Nadine Roßa WWW.NADINE-ROSSA.DE & Patrick Marc Sommer WWW.PATRICKMARCSOMMER.COM
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