Augmented Sculpture
Info
Im ersten Stock des alten Fabrikgebäudes betritt man einen großen, fast vier Meter hohen Raum – die spärliche Beleuchtung lässt kaum etwas erkennen. An seinem Ende, fast 25 Meter vom Eingang entfernt, erahnt man vage eine große Fensterfront, in den Fenstern reflektiert schwach das Licht von Straßenlaternen. Beim Nähertreten zeichnen sich davor immer deutlicher die Umrisse eines zweieinhalb Meter hohen Objekts ab. Es scheint in der Luft zu schweben. Mehrere Leute stehen verteilt um die Skulptur, manche umschreiten sie behutsam. Zeitgleich mit der einsetzenden Musik von Jon Hopkins tauchen Teile der Skulptur aus dem Dunkeln auf – als würde sie kurz von den Scheinwerfern eines vorbeifahrenden Autos gestreift. Plötzlich werden die Kanten einzelner Flächen mit Licht in den Raum gestochen; aber eine Gesamtstruktur ist noch immer nur schwer zu erahnen. Dann illuminieren ganze Flächen farbig, anfangs weit voneinander entfernt, dann immer näher und schneller, bis die Skulptur endlich für einen Augenschlag in ihrer Gesamtheit zu erkennen ist und sie ihre Silhouette preisgibt. Jede einzelne Fläche wird für Hundertstel Sekunden im Rhythmus der einsetzenden Bässe in gleißendes Licht getaucht, jede scheint für sich losgelöst, und dennoch mit den angrenzenden Flächen in Verbindung zu stehen, flackert kurz im Rhythmus der Musik und erlischt wieder …
„Manche Dinge in meiner Umgebung sind mir nicht ganz geheuer“, bemerkt 1993 der Philosoph Vilém Flusser, undfasst dabei die Ungeheuer in seiner Umgebung unter dem Sammelnamen ‚Apparate‘ zusammen. Solch einem ungeheuerlichen Apparat scheint man hier nun in persona gegenüber zu stehen: Gleich einem extraterrestrischen Objekt situiert sich die Skulptur allmählich im Raum; und offenbart sich dabei nur sukzessive. Im Betrachter folgen dem allerersten Staunen viele Fragen auf den Fuß: Was ist das? Was geschieht mit mir als Betrachter? Aber vor allem diese: Wie ist das?
Lichtfront / Grosse 8 haben mit Augmented Sculpture ein umgestülptes Trojanisches Pferd geschaffen; und dieses mitten auf dem blinden Fleck der Netzhaut des Betrachters platziert.
Mit dem Ziel, sowohl althergebrachte Sehgewohnheiten aufzubrechen als auch dem Betrachter die Wahl von Ausschnitt und Standort zurückzugeben.
Die Verstörungen des Gewohnten ebnen dabei den Raum:
Raum für das Überdenken von Sehgewohnheiten; von der Mikro- (Verhältnis von Innen und Außen; z.B. erleuchtet vs. beleuchtet) bis zur Makroebene (Prägung und (v.a.) Manipulation der Wahrnehmung durch Medien, Erweiterung der Wahrnehmung durch Medien etc.). Das unvermeintliche ‚Schubsen des Betrachters‘, um eben jenen zu verstören, geschieht dabei nicht per Rede, Schrift, zweidimensionalen Film o.ä.; allein das ‚räumliche Musikvideo‘ gibt den Impuls dazu. Ein klares Diesseits der Maschine – die, das ist dem Betrachter klar, ja doch irgendwo sein muss – gibt es hier nicht mehr und ist auch nicht zu erkennen.
Anders als beispielsweise im 3D-Kino, bei Augmented Reality- Anwendungen (AR; z.B. fürs Handy) oder 3D-Buch-Technologien bedarf es zur Wahrnehmung der Augmented Sculpture keiner umfangreicher technischer Hilfsmittel. Sie ist laut Harry Pross` Terminologie der medialen Vielfalt ein so genanntes ‚Sekundäres Medium‘: Auf Produzentenseite benötigt sie einen Apparat, auf Rezipientenseite nicht. Dies hat – bei dieser spezifischen Form von Projektion – zur gravierenden, aber erwünschten Folge, dass eine Rahmung (Kadrierung, Cadrage, Frame) entfällt, das filmische Objekt ist ‚einfach da‘, mitten im Raum, mitten in der Wahrnehmung des Betrachters. Es existiert direkt, von Anfang an (a prima vista, a priori)
auf der Netzhaut. Einen Bildschirm oder eine Leinwand im herkömmlichen Sinn gibt es nicht mehr; der schwarze Rand des Bildschirms, die Grenzen der Leinwand entfallen – der Aufführungsraum wird zum integralen Bestandteil der Intervention.
Als Betrachter findet man sich inmitten einer Arena wieder, die morphende Skulptur in ihrer Mitte ist umgehbar, umkreisbar, berührbar – ihre Tiefenschärfe letztlich unendlich groß. Allein der Betrachter bestimmt: Standort, Blickwinkel, Nähe/Distanz zum haptischen Objekt, Blickführung und Bildausschnitt (Mis-en-Scène UND Montage). Ganz anders also als im TV, Kino, Theater.
Der Abstand zum Objekt verringert sich gezwungenermaßen: Bei herkömmlichen AR-Anwendungen schalten wir die Kamera unseres Handys –welches wir am Ende unseres ausgestreckten Arms halten – zwischen uns und das Objekt, im 3D-Kino trennt uns eine rot-grüne Brille vom direkten Erleben (und führen wir unseren Blick nicht selbst), und der vielbeschworene Cyperspace offenbart sich uns nur über eine auf den Kopf applizierte Apparatur. Selbst ins Internet reichen wir nur über die per Maus(zeiger) unterstützte Urgeste des Zeigens hinein. Bei der Augmented Sculpture dagegen wird die Realität bzw. Wahrnehmung ‚einfach‘ erweitert: 48 eindeutig definierte materielle Flächen bilden die haptische Basis, die mittels digitaler Projektionen und Audioelemente zum Leben erweckt wird.
Projektionen und Audioelemente wiederum interagieren über die gesamte Skulptur hinweg in einem umfassenden dramaturgischen Gesamtkonzept miteinander. Im raum-zeitlichen die physische Geometrie der Skulptur, andererseits die 360° erfassende Projektion. Sowohl die Abfolge der Bilder pro Fläche als auch die Inhalte der Bilder verleihen dem Raum eine zeitliche Qualität (und damit Mehrdimensionalität). Die Skulptur besteht aus tausenden einzelnen Instanzen dieser Skulptur. Eine einzelne Instanz wiederum setzt sich zusammen aus Skulptur, Projektion zum Zeitpunkt null (t0) und Sound bei t0, Position des Betrachters bei t0 sowie Blickfokussierung/- winkel des Betrachters bei t0. Die Zahl der unterschiedlichen individuellen Betrachtungsweisen der Skulptur geht dementsprechend gegen unendlich.
Nicht zuletzt führt die Künstlichkeit der Beleuchtung und ihre so widersprüchliche Funktion den Betrachter hinters Licht: Auf der einen Seite die einer theatralischen Beschönigung, auf der anderen die einer mitleidlosen Enthüllung. Nähert man sich der vermeintlich leuchtenden Skulptur auf wenige Zentimeter, so offenbart sich ihre Unvollkommenheit im Detail. Und man versteht, dass sie nur so funktionieren kann.
Lichtfront / Grosse 8 fokussiert mit Augmented Sculpture unterschiedliche Anwendungsszenarien: inner- und außerhalb von Gebäuden (als architektonisches Element, z.B. in einer Hotellobby), als amorphes Kunstobjekt, als dreidimensionaler Informationsträger (Raum-Vorschauen auf Empfangstresen, Wegeleitsystem etc.), als Raumerweiterung (Bühnenbilder, angereichert mit inhaltlichen Elemente), Dekorvisualisierung in Echtzeit/Originalgröße (s. Egger „Virtuelles Design Studio“) etc.
Lichtfront / Grosse 8
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