Dumm und Dümmer

HD Schellnack

Wir lesen mehr

Selten habe ich eine Buchmesse erlebt, die so viel Aufbruchsstimmung und Todesangst zugleich zu verströmen scheint. Es ist verblüffend, wie schnell iPad, Kindle und Co. die Buchbranche in Aufruhr versetzen und einen spürbaren gesellschaftlichen Wandel zu bewirken scheinen. Tatsächlich ist der Niedergang der Lesegesellschaft natürlich ein Tod mit Ankündigung. Schon McLuhan nahm in den 60ern angesichts von Hifi-Anlagen und TV Abschied von der linearen Kommunikation. Norbert Bolz wärmte den Abschied von der Gutenberg-Galaxie später ebenso auf wie ausgerechnet Magazingestalter David Carson mit »The End of Print«. Dieser Exodus auf Raten wird mit jeder alternativen Medienform wieder aufgewärmt, sei es das Hörbuch, seien es die ersten Lebenszeichen des Internets als Massenmedium in den 90ern oder aktuell Tablet-Computer (die sich, kaum ausgereift, bereits alt anfühlen). Man kann dagegen anführen, dass heute mehr denn je gelesen wird: Das Web ist noch stark auf Text fokussiert, dessen Bandbreiten-Ansprüche geringer sind als 1080p-Video. Es wird mehr gelesen denn je – Facebook, Twitter, RSS, Blogs, eBooks und -Magazine. Und es wird – weil in vielen dieser Medien die Instant-Feedbackschleife längst normal ist – auch mehr geschrieben. Mein Lieblings-Tweet ist und bleibt »Riding my Bike!« – Quintessenz eines permanenten quasi-telepathischen Sendeverhaltens an die gesamte Welt (oder zumindest an die »Follower«). Auf der Haben-Seite ist zunächst also eine Folge der Digitalisierung, dass wir mehr lesen und schreiben als jemals zuvor.

Wir lesen anders

Aber natürlich haben Frank Schirrmacher und andere Buchkultur-Apokalyptiker recht: unser Leseverhalten ist fahriger geworden. Wir scannen Texte, vertiefen uns weniger, springen schneller ab. Auf digitalen Lesegeräten ist ein Buch mit 500 Seiten im Wettbewerb mit verdichteten Informationshappen, Podcast, Hörbuch, Video, Spiele, Web. Alles stets nur einen Swipe entfernt – das ist harte Konkurrenz. Das multimediale Nebeneinander macht es zur Herausforderung, dem digitalen ADHS zu widerstehen und in kratzbürstige Belletristik einzutauchen, dabeizubleiben. Diese Veränderung wird die Buchbranche verändern – ich würde eine Renaissance von Essays, Novellen und Kurzgeschichten vorhersagen, die den channelhoppenden Leseästhetiken entgegenkommen, den Leser besser bei der Stange halten und die mediale »Untreue« eleganter abfedern. Esquire hat bereits einen Band mit Kurzgeschichten veröffentlicht und wer jetzt einen Verlag für Short-Story-ePubs gründet, hat wahrscheinlich gute Marktchancen. Aber auch wenn der Leser es schneller und härter, auf den Punkt braucht – das Comic Book sollte keine Steilvorlage für die Literatur sein. Ein Cliffhanger pro Seite, flache Charakterstrukturen, geringe Latenz zwischen Aufbau und Dénoument, Komplexität reduzieren statt narrativ schaffen – das ist die Architektur von zu viel traurigen Publikationen derzeit in einem Markt, in dem die »Twilight«-Serie globalen Erfolg hat und Thomas Lehr kaum gelesen wird.

Qualität gewinnt

Auf der anderen Seite glänzt vage der Hoffnungsschimmer, dass die Implosion der Lesegesellschaft auch Gutes hervorbringt. Denn als erstes erwischt es ja immer das Kanonenfutter. Die Krise der Buchbranche wird die großen Fillialisten-Ketten treffen, deren niedrige individuelle Beratungskompetenz, auf Massengeschmack setzende Programmpolitik und Verfügbarkeit von Titeln am ehesten durch Amazon und iTunes ersetzbar sind. Gleiches gilt für Verlage, die auf Me-Too-Bücher setzen. Die Buchcharts, die Buchmesse, die Buchhandlungen sind voll von primär Marktanteile sichernden Massenpublikationen, die Buchkonzerne setzen virtuelle Kleinverlage in die Welt, die dann präzise für kleinste Zielgruppen produzieren (Horrorteenieromanze-Titel) und denen es natürlich nicht um Literatur geht, sondern um Quartalszahlen. Der digitale Markt wird dieses Spielfeld verändern. Die echten kleinen Verlage, die leichtfüßiger agieren können, werden davon profitieren, dass eBook und SocialMedia auch ohne großes Budget einen überzeugenden Auftritt erlauben. Wenn die uns bevorstehende Schundflut (oder sind wir schon mittendrin?) als letztes Aufbäumen alter Strukturen abebbt, werden es hoffentlich die kleinen Buchhandlungen und die kleineren Verlage sein, die die kommende Umbruchphase überleben, weil sie weniger orientierungslos sind und ihre Existenz oft auch ohne oder sogar wider ökonomische Vernunft beibehalten werden. Diese spezielle Unvernunft wird sich langfristig auszahlen. Es mag paradox sein – aber die bevorstehenden schwarzen Jahre der Printgesellschaft sind Goldgräberzeiten. In den USA zeichnet sich bereits ab, dass kleine Verlage mit klarer Spezialisierung und guten Autoren exzellent agieren können und eine solide »Fanbase« aufbauen.

Renaissance des Wertigen

Es mag grenzenloser Optimismus sein, von einer neuen Kaffeehauskultur zu träumen, die digital energetisiert ist, aber vergessen wir nicht, dass die 20er Jahre für die Literatur ein Goldenes Zeitalter waren – und ähnelt unsere Gegenwart nicht zunehmend genau dieser Ära? Wer sagt, dass nicht gerade die Flut an Müll, die miesen Bücher, die sich selbst verdummenden Radiosender, das grassierende um die Wette tiefer gelegte Niveau nicht in einer Gegenbewegung mündet, in einem Hunger nach Qualität – nach guter Musik, guten Filmen, guten Büchern? Wir sehen diese Tendenz in anderen Bereichen ja längst. Dieter Rams »Weniger, aber besser« ist die verbindende Klammer, die immer weitere Teile der Gesellschaft erfasst (die sich hier vielleicht sogar unbewusst auf einen globalen Shift hin zu mehr zwangsläufiger Bescheidenheit in der westlichen Hemisphäre vorbereitet). Statt H&M eben maßgeschneiderte Anzüge, die über Jahre taugen, Selvedge-Jeans, die man monatelang eintragen muss oder brettdicke Lederjacken zum Vererben, statt Ikea aufgearbeitete Vintage-Möbel aus den 60ern oder alten Industriehallen… es scheint, als würde die Loslösung von der Wirklichkeit, die wir durch das uniquitäre Net erleben, simultan den Wunsch nach »Echtheit« und Langfristigkeit nähren. Man weiß handgeschriebene Geburtstagswünsche eben mehr zu schätzen, wenn jeder bei Facebook mit zwei Klicks allzu einfach gratulieren kann. Wenn alles leichter (und damit gesichtsloser) wird, gewinnt das Schwierige an Wert. Japan – wie immer das Land der Zukunft – ist uns in der Wertschätzung für diese Dinge weit voraus und betreibt seit zwei Dekaden eine otakuistische Renaissance handgefertigter Kleidung aus hochwertigen Materialien. Die Wertschätzung solcher Details ist natürlich immer auch ein Distinktionsversuch – Bordieus feine Unterschiede lassen grüßen. Es ist logisch, dass die breite und somit billige Verfügbarkeit von High-Tech-Digitalkram bei Early Adopters eine reaktive Abkehr von diesen Technologien bewirkt. Der Trend zum Army-Style, die explodierenden Preise bei Vintage-Armbanduhren, die Wiederkehr von Leder und Jeans in hochpreisiger Luxusqualität, Letterpress und andere alte Drucktechniken als Antwort auf Flyeralarm-Lowbudgetdruck und »papierlose« Kommunikation darf man auch als Abwendung von der Massenproduktion, hin zur Manufaktur und zur »guten, alten« Zeit verstehen – es ist zugleich eine gänzlich nostalgiefreie Suche nach Authentizität, die sich hier niederschlägt, eine Müdigkeit mit dem Turbotrash, der von der chinesischen »Werkbank der Welt« bei uns niederprasselt, eine Sehnsucht nach Dingen, an denen man sich länger festhalten kann. Diese Renaissance von »Beausage«-Objekten wird auch das Buch als Objekt der Begierde unweigerlich erfassen. Ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich vorhersage, dass das Taschenbuch und der Alles-für-jeden-Buchhandel langfristig verschwinden wird, während Erstausgaben mit tollem Einband und wunderbarem Papier (und ebensolcher Typographie) ebenso aufblühen werden wie die kundennahe Spezialbuchhandlung mit Vor-Ort-Beratung, gutem Kaffee und einer liebevoll gepflegten Online-Präsenz.

Dumbing down

Es gibt eigentlich nur zwei desaströse Arten, auf Wandel zu reagieren. Die eine ist, gar nicht zu reagieren, die andere – schlimmere – ist, überzureagieren. Im Wandel der Lesegesellschaft erleben wir das jeden Tag. Egal aus welcher Branche die Auftraggeber kommen – ganze Bücher werden im Spiegelstrich-Stil verfasst, einer Art Powerpoint-Pidgin-Deutsch, Texte sind so angelegt, dass förmlich nach jedem Satz ein Ausrufezeichen steht, in Anzeigen, auf Plakaten oder auf Umschlägen kann es gar nicht laut genug zugehen, es werden auf die eigenen Publikationen noch Störer gesetzt. Als Reaktion auf das sprunghaftere Lesen, die immer kleiner werdende Aufmerksamkeitsspanne, wird am Volumenregler gedreht. Kann die Schrift größer? Die Headline brutaler? Text kürzer und 16 pt? Can we dumb this down? Verständlich, wenn viele Rezipienten beim Lesen von eMail gar nicht mehr über die Titelzeile hinausgehen. Was für ein seltsamer Unterschied zur Werbung der 50er und 60er, deren Copy oft klein und vor allem viel war und die oft in phantastisch ausschweifenden Erzählungen ein Produkt anpries. Sind wir in nur fünf Dekaden so viel dümmer, so viel beschleunigter geworden? Ich glaube nicht. Was ich allerdings glaube ist, dass es einen Teufelskreis gibt, in dem die Macher an die Dummheit ihrer Zielgruppe glauben und diese bedienen, wodurch die Zielgruppe unweigerlich dümmer wird, woraufhin die nächste Generation von Medienproduktion wieder etwas dümmer werden muss, und so weiter ad nauseam. Wie es auch in der Bildung diesen Teufelskreis nachlassender Anforderung gibt. Und offenbar gibt es ja auch tatsächlich einen Mainstream, der »dumbed down« konsumiert, dem Musik und Filme gar nicht bräsig genug sein können. Das Problem ist nur: Diese Zielgruppe liest nicht. Sowieso und generell nicht. Oder nur ausnahmsweise. Ansonsten wartet sie auf den Film zum Buch. Die Frage ist nur, ob man sich diese Zielgruppe zu eigen machen sollte, wenn die eigenen Angebote das nicht wirklich unbedingt verlangen. Genauer: Sind die »Bildungsungewohnten« die Abnehmer, so muss man natürlich professionell Wege finden, deren Sprache zu sprechen (und auch das geht mit Stil). Roller ist anders als Vitra, keine Frage. Deswegen müssen Kommunikationsdesigner immer zugleich auch gute Anthropologen sein, Meister des Mimikry. Der Haken: Jede Zielgruppe nimmt wahrnehmbares »Dumbing Down« krumm, selbst die härtesten Kulturdefizitäre haben ein feines Ohr dafür, ob etwas »echt« klingt oder sie nur von oben herab angeschleimt werden. Wer für Jugendliche wirbt, beherrscht also entweder bis auf das i-Tüpfelchen deren spezifische Codes oder vermeidet sie besser konsequent ganz. Hinter dem Ansatz, Texte und Design »einfacher« machen zu wollen, steckt oft eine versteckte oder unbewusste Herablassung gegenüber dem Empfänger der Botschafter – und diese Haltung ruiniert vom ersten Moment den Erfolg der Kommunikation.

Smarting up

Gutes Design versucht also, egal, für welche »Schicht« es gedacht ist, diese zu bereichern, nicht zu verdummen. Gutes Design hat einen Bildungsauftrag – und in diesem Kontext ist Text elementar. Das Buch ist das einzige Medium, das dich nach oben ziehen kann, dir die Hand reicht. Allein der Akt des Lesens bildet, erweitert den Horizont, die Buchgesellschaft ist eine Kette vererbten Wissens, von Second-Hand-Erfahrungen, die man sich unmittelbar aneignen kann, von fremden Leben und Ideen, in die man eintaucht. Während die Sprache des Films sich während des Sehens selbst erklärt und der Betrachter auch komplexere Techniken intuitiv ohne Vorbildung verstehen kann, ist Lesen immer mit einer höheren Lernkurve verbunden. Vom Lesen-Lernen in der Schule bis zur hermeneutischen Textanalyse, ganz zu schweigen von der mentalen Leistung, aus einer Handvoll Buchstaben einen lebendigen Kosmos von Charakteren und Situationen entstehen zu lassen. Der Reiz von geschriebener Texte liegt genau in dem sehr hohen Payoff dieser Lesearbeit, an der intellektuellen Tiefe und emotionalen Nuancierung, die andere Medien in dieser Kompaktheit nicht so kompromisslos hinkriegen, auch nicht als unmittelbaren Dialog zwischen Autor und Leser ohne nennenswerte Mittelsmänner oder Eintrübungen.

Wenn wir also dem Aufkommen der neuen Wertschätzung für Qualität als Designer lernen wollen, so betrifft das nicht nur eine Auseinandersetzung mit Typographie, Haptik und Inszenierung, sondern auch den Kern von Design, den Inhalt. Bei uns ist es interessanterweise längst Alltag, dass wir weniger über Grafik und mehr über konzeptionelle und textliche Inhalte diskutieren, gegen falsche Verknappungen ankämpfen, für gute, eben lesenswerte Texte kämpfen. Denn Texte werden nicht durch Powerpointifizierung lesbarer, sie klingen nur nach einer schlechten Bedienungsanleitung – und die will nun wirklich niemand lesen, die Verkürzung sabotiert also die Absicht des Senders. Und Störer heißen so, weil sie stören – will man das wirklich im eigenen Auftritt? Sinnvoller ist es, an Überschriften und Texten zu feilen, bis sie an sich ungestört erfolgreich funktionieren, bis der Empfänger sie lesen will, sich angesprochen fühlt und freiwillig am Ball bleibt, bis Botschaft und Form eins sind. Was ein guter Roman schafft, sollte für Marketing und Design nicht unmöglich sein, oder?

Print ist also keinesfalls tot, aber die Welt von Magazinen, Büchern und Broschüren wird sich ändern. Egal ob analog oder digital, der Markt wird schrumpfen. Es wird weniger, aber schönere Publikationen geben und für Designer wird es weniger, aber intensiver zu tun geben, weil die Aufgabe des Qualitätsmanagements in Projekten mehr und mehr in unseren Bereich fällt. So wie gute Typographie einen Text erst lesbar macht, ist guter Text an sich der Dreh- und Angelpunkt im Designprozess. Als Designer ist man also nicht nur ein (Co-)Autor, sondern auch ein Leser, der den Text entgegen so vielen Beispielen in der Branche nicht als Grauwert betrachtet, sondern als eine der wichtigsten Waffen, die wir in unserem kommunikativen Arsenal haben. Das Erfolgsrezept von Morgen ist das von Gestern: Kluge Auftraggeber, die kluge Gestalter beauftragen, für eine als klug eingeschätze Zielgruppe kluges Design zu produzieren – und alle haben Spaß dabei.