Britta Nitsch studierte Kommunikationsdesign an der FH Münster. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit »Prokrastination« konzipierte, illustrierte und gestaltete sie ein hilfreiches und amüsantes Buch über das Aufschieben von Wichtigem. Wir haben sie zum Inhalt ihrer Arbeit interviewt.

Prokrastination bezeichnet das Verhalten, als notwendig aber unangenehm empfundene Arbeiten immer wieder aufzuschieben.

Was verbirgt sich hinter dem Wort Prokrastination und welche Ursachen gibt es?

Stolz betrachtet man sein Werk. Hier mit Photoshop einen künstlichen Lichtreflex zu setzen, wäre nicht gelogen: Dieses Kühlschrankinnere sieht genauso sauber aus, wie es ist: Keimfrei. Beim Reinigen der Fächer für Eier und Getränke sind einem sogar die Gummidichtungen am Rand der Tür negativ aufgefallen. Kein Krümelchen versteckt sich mehr in den Einstülpungen der Dichtungen, kein Hauch von Staub kann mehr Konglomerate mit anderen Materieformen bilden. Dummerweise müsste man eigentlich am Schreibtisch sitzen und ganz anderes erledigen. Warum tut man das nur nicht? Und das immer und immer wieder wie ein Unbelehrbarer?

Max Goldt hat das Prokrastinieren sehr treffend beschrieben: »Der Begriff bezeichnet ein nicht zeitmangelbedingtes, aber umso qualvolleres Aufschieben dringlicher Arbeiten in Verbindung mit manischer Selbstablenkung und zwar unter Inkaufnahme absehbarer und gewichtiger Nachteile.« Dabei richten sich die Konsequenzen nach dem Grad des Härtefalles – manch einer bekommt die Aufgabe mit ein bis zwei Nachtschichten in den Griff, andere werden zum Beispiel exmatrikuliert, weil sie jedwede Chance prokrastiniert haben eine bestimmte Prüfung zu absolvieren.

Prokrastination tritt lediglich als Verhalten an die Oberfläche, das durch einen inneren Konflikt verursacht wird. Beim Erledigen von Aufgaben stehen uns Denkfehler im Weg, wie etwa ein zu geringes Selbstwertgefühl, Versagens- und Erfolgsängste, Unentschlossenheit, eine Work-Life-Balance in Schieflage oder Perfektionismus. 

Welche positiven Seiten hat Prokrastination? Wann ist Prokrastination etwas völlig normales und ab welchem Punkt kann man von einer Krankheit sprechen? Wann macht es Sinn sich professionelle Hilfe zu holen?

Prokrastination hat immer einen bitteren Nachgeschmack. Man schiebt eine Verpflichtung wie zum Beispiel die Steuererklärung vor sich her, weil man keine Lust hat auf Belege sammeln und Formulare ausfüllen. Die Aufgabe an sich ist gar nicht so wild, nur durch das Aufschieben erhöht sich künstlich ihre Gewichtung. Schließlich meldet sie sich alle paar Tage im Hinterkopf zurück: Gott, ja, die Steuer muss ich auch noch machen (d. h. ich armer Wicht, ich habe ja sonst schon so viel um die Ohren). So wird aus einer Mücke ein Elefant. Spart man sich das Prokrastinieren, kann man zeitnah einen Haken an diese Aufgabe machen, hat sie aus dem Kopf und hat Zeit und Energie für anderes – das wäre dann eine völlig normale Herangehensweise.

Hilfe sollte man sich holen, wenn Berufs- und Privatleben unter dem Aufschieben leiden. Oftmals hilft schon ein kleiner Diskurs in die eigenen Synapsenwindungen gepaart mit ein wenig Ruhe. Also Facebook und Twitter einmal links liegen lassen und sich die Zeit nehmen ein paar innere Knoten zu lösen und Fragen zu beantworten. Und schon wird einem klar, warum man die Hochzeitseinladung eines befreundeten Paares noch nicht beantwortet hat, obwohl man schon mehrfach daran erinnert wurde – man will dort gar nicht hingehen, weil der Typ irgendwie doch hohl und das Mädel nervig ist. 

Was genau hat Dich an dem Thema interessiert und auf welche Aspekte beziehst Du Dich besonders mit Deiner Abschlussarbeit?

Ich finde es faszinierend wie ausgiebig und dauerhaft wir uns selbst manipulieren können und wie leidensfähig wir dabei sind. Wir können uns Beziehungen jahrelang schön reden, weil wir die Konsequenzen einer Trennung scheuen. Manch einer geht jahrelang unglücklich zur Arbeit obwohl er gerne etwas ganz anders machen möchte. Es ging mir in dem Buch also darum zu verstehen, wovor sich Prokrastinierer schützen wollen, wie diese Verhaltensmuster entstehen und wie einfach es stellenweise ist, sie zu durchbrechen. Ziel ist es, seine Verhaltensweisen zu hinterfragen und mit kleinen, einfachen Hilfsmitteln größtmögliche Erfolge und Verbesserungen zu erzielen.

Was war die wichtigste Erkenntnis die Du gewonnen hast?

Manchmal sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Richard David Precht fasst das so zusammen: »Unsere beispiellose Freiheit hat uns nicht nur glücklich gemacht. Tag für Tag zeigt sie uns zugleich, was wir nicht haben. Sie nötigt uns zur Wahl, zum Vergleich, zu Eifersucht, Neid und Frust. Wenn das Leben unser Großeltern scheiterte, lag es an den Umständen. Wenn unser Leben nicht das ist, was wir uns wünschen, so liegt es an uns selbst. Eine finstere Bedrohung. (…) Der Selbstbedienungsladen für die Zutaten unseres Lebens ist unüberschaubar geworden.«
Wir scheinen uns selbst zu verlieren in einem Wirrwarr aus Möglichkeiten und permanenter Reizüberflutung. Da kann es leicht passieren, dass man sich gesellschaftlich unter Druck gesetzt fühlt und man Prioritäten falsch setzt.

Hat sich durch die Auseinandersetzung mit dem Thema für Dich nachhaltig etwas verändert? Gelingt es Dir deine Erkenntnisse im Alltag umzusetzen?

Ich habe meine großen Lebensziele besser im Blick. Erstmal weil ich mir die Zeit genommen habe darüber nachzudenken, was mir eigentlich wichtig ist. Und wenn ich merke, dass ich eine Aufgabe oder Tätigkeit vermeiden will, kann ich mich am eigenen Schlafittchen packen, mir klar machen, dass diese Aufgabe nur ein kleiner Teilbereich eines größeren Ziels ist, das ich erreichen will und schon habe ich mich selbst motiviert. 

Würde es Sinn ergeben das Thema im Studium oder bereits in der Schule zu behandeln? Falls ja, in welchem Rahmen?

Das würde auf jeden Fall Sinn machen. Gerade im Studium ist Selbstorganisation wichtig und strukturiertes Vorgehen hilfreich. Es gibt einfache Methoden sich seine Woche zu planen, damit man den Anschluss nicht verpasst. Wichtig ist dabei die Politik der kleinen Schritte. Es macht also keinen Sinn, zu sagen: Nächste Woche muss ich die ganze Zeit lernen, ich habe für nichts anderes Zeit. An solch hohen Zielsetzungen scheitert so manch Prokrastinierer, weil das Unterfangen von vornherein unrealistisch ist und er sich unter Druck setzt. Sinnvoller ist es, sich z.B. die Klausurvorbereitung in verdauliche Portionen von ein paar Stunden zu unterteilen und sich danach mit einer Pause zu belohnen, in der man dann auch gerne Freunde im Park zum Grillen trifft. Das motiviert für die nächste Lerneinheit.
Neben konkreten Methoden zum Zeitmanagement finde ich eine Auseinandersetzung mit den eigenen Zielen, Werten, Ängsten, Unsicherheiten  und Lebensvorstellungen wichtig, da man die Prokrastination hier an der Wurzel allen Übels packen und in ihre Schranken weisen kann.

Ist die Thematik für bestimmte Alters- und Berufsgruppen oder Kulturen besonders relevant? Wer ist betroffen, wer bleibt verschont und was sind die Ursachen dafür?

Zum Prokrastinieren braucht es die Möglichkeit der freien Entscheidung. Beruflich kann es hier also vermehrt Kreative treffen und weniger den Akkordarbeiter am Band. Auf ein bestimmtes Alter würde ich das Aufschieben nicht begrenzen wollen. Getreu dem Sprichwort »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr« wäre eine rechtzeitige Auseinandersetzung mit dem Thema aber von Vorteil.

Bist Du auf vorhandenes Material mit konkretem Designbezug gestoßen? Kannst Du Bücher oder Internetseiten empfehlen?

Ich habe mich unter anderem auch dem Thema Prokrastination und der Aufbereitung als Buch gewidmet, weil ich bei meiner Recherche zu dem Schluss gekommen bin, das Selbsthilfebücher selbst Hilfe brauchen. Gerade bei der visuellen Aufbereitung war ich durchweg enttäuscht. Ich habe mich durch unstrukturierte, langatmige und Bilderlose Textwüsten lesen müssen …

Ein Buch, dem es zumindest nicht an Humor mangelt, ist »Dinge geregelt kriegen« von Kathrin Passig & Sascha Lobo (Rowohlt Berlin).

In welcher Form greifst Du das Thema gestalterisch auf bzw. wie setzt Du es visuell um in Deiner Arbeit? Welche Elemente, Farben oder Regeln spielen eine besondere Rolle und warum?

In der Gestaltung finden sich die elementaren Verhaltensweisen und Züge des Prokrastinierens wieder. 
Wie schwindende Zeit zählen die Seitenzahlen einen unnachgiebigen Countdown gen NULL.
Die Schrift »Akkurat« unterstützt den klar strukturierten Inhalt und steht gewissermaßen auch für die unangebrachte Akribie, mit der Prokrastinierer ihre Zeit mit weniger wichtigen Aufgaben verbringen (z.B. das komplette Kühlschrankinnere putzen oder 21,3 m Fußleisten streichen anstatt für mein Diplom zu recherchieren). In Kontrast dazu tritt die hingehuschte Handschrift, die von Eile und Zeitdruck mit der erbarmungslos nahenden Deadline zeugt. Selbige Erscheinungen des Prokrastinierens sind auch in den Grafiken und Illustrationen wiederzufinden. Selbst der Satzspiegel wurde aufgeschoben und ist konsequent asymmetrisch rechts.

Textauszug:

Aus dem Kapitel »Artenkontrolle & Symptomatik«

Stufe 1: PROKRASTINATION mit Wichtigerem
Diese Art ist generell das produktive Prokrastinieren. Man kann sagen, dass diese Prokrastinierer wissen, wie der Hase läuft. Die Marotte der Saumseligkeit wird genutzt, um wichtige Dinge durch andere noch viel wichtigere Dinge, die wirklich wichtiger sind, aufzuschieben. Sie nutzen den Druck der Deadline, um Kreativität, Effizienz und Produktivität optimal einzusetzen (vgl. Seite 36 Deadline). Hier kann alles so bleiben, wie es ist. Sie sind in der Lage sich zu organisieren. Ob es sich hierbei überhaupt um Prokrastination handelt, ist eine Frage der Begriffsauslegung. Mit einem Augenzwinkern kann man wohl ja sagen.
»Ich wollte diesen Essay schon seit Monaten schreiben. Warum fange ich heute endlich damit an? Weil ich endlich die Zeit gefunden habe? Nein. Ich müsste Hausarbeiten benoten, Lehrbücher bestellen, einen Antrag begutachten, Dissertationsentwürfe lesen. Ich arbeite an diesem Essay, um dem allen aus dem Weg zu gehen.« John Perry, Philosophieprofessor in seinem Essay: Structured Procrastination

Stufe 2: Prokrastination mit weniger Wichtigem
Hier wird es kritisch. Diese Saumseligen wählen als Beschäftigungsmaßnahmen weniger wichtige Dinge. Ihr wichtiges Hauptprojekt liegt brach, während sie sich mit mehr oder minder banaleren Tätigkeiten beschäftigt vorkommen. So wird wertvolle Zeit verschwendet, die dann leider an anderer Stelle schmerzhaft vermisst wird. Oftmals steht man sich selbst einem produktiven Arbeiten im Weg und das eigene Schaffen und im schlimmsten Fall große Teile des eigenen Lebens werden als anstrengender und kräftezehrender wahrgenommen, als sie sind. Dadurch schwindet die eigene Antriebsenergie schneller und mir nichts dir nichts befindet man sich im endlosen Kreislauf der Prokrastination. Je nach Ausprägung können die negativen Auswirkungen von amüsant, nervend, störend, hinderlich bis zu lähmend empfunden werden.

Stufe 3: Prokrastination mit gänzlich Unwichtigem
Anhänger dieser Art wären in freier Wildbahn vom Aussterben bedroht. Gehört man hierzu, ist akuter Handlungsbedarf vorhanden, der am besten von qualifizierten Fachleuten langfristigbegleitet wird. Das Prokrastinieren nimmt solche Ausmaße an, dass die Zeit mit völlig unwichtigem verschwendet wird. Oftmals verstreicht sie sogar mit einem puren Nichtstun. Man kommt im Leben nicht voran, tritt auf der Stelle, der Antrieb geht gen Null ebenso wie der Selbstwert. Das wirkt sich selbstredend auf die Lebensqualität aus. Depressive Züge sind vorprogrammiert, Selbstmordgedanken nicht ausgeschlossen. Diese Prokrastinierer sind allerdings Härtefälle, die eher die Ausnahme bilden.

Erregungstyp
Der Prokrastinierende wartet auf einen ganz speziellen Druck, der ihn in den Zustand der positiven Erregung versetzt. Er zögert den Beginn einer Aufgabe solange hinaus, bis es ihm in den Händen kribbelt, endlich anzufangen. Er sieht sein geschrumpftes Zeitkontingent als Ansporn, als Hilfestellung sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Übertreibt er es allerdings und muss am Schluss oftmals bis zum Umfallen arbeiten, um alles zu schaffen und es wird anstrengender als geplant und auch ganz schön kräftezehrend, wird es für ihn kritisch: Da haben wir sie, die Übersteigerung der Aufgabe, die dazu tendiert, aus einer Mücke einen Elefanten werden zu lassen. Wird der Druck zu hoch dosiert, gibt es zudem einen guten Nährboden für Unsicherheiten und Selbstzweifel. Die wiederum lassen das Entscheiden schwer fallen und Arbeitsblockaden tauchen schneller auf, als einem lieb ist. Der Grad zwischen positiv antreibender Erregung und kräftezehrendem Geisteszustand ist somit äußerst schmal und mit Vorsicht zu genießen.
Calvin: »Kreativität lässt sich nicht einfach aufdrehen wie ein Wasserhahn. Man muss schon in der richtigen Stimmung sein.« Hobbes: »In welcher Stimmung?« Calvin: »Torschlusspanik.« Bill Watterson: »Calvin & Hobbes«

Vermeidungstyp
Dieser Prokrastinierende folgt dem Vermeidungsprinzip. Diffuses unterschwelliges Unbehagen hält ihn vom Beginn der Aufgabe ab, er schiebt sie hinaus, er möchte ihr aus dem Weg gehen. Das klappt aber in den wenigsten Fällen. Saumselige dieser Art machen sich das Leben mitunter extrem schwer. Sie möchten vor ihren Ängsten und Unsicherheiten fliehen, aber das ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Diese Sportsfreunde werden den Prokrastinierer immer wieder Heim suchen, um ihn herauszufordern. Es sei denn, man stellt sich ihnen und wagt sich an ihre Überwindung. 

Künstliche Übersteigerung
Da säumelt man also vor sich hin, tut dies und jenes ohne rationalen Sinn für Verstand – ja, man weiß, DIE wichtige Aufgabe steht immernoch an, man sollte langsam mal anfangen, aber man hat ja schonmal ein bißchen was darüber recherchiert, schonmal mit Mitmenschen über deren Meinung darüber gesprochen und im Internet die ein oder andere Infoquelle gefunden … Ja. Und dann eines Tages packt es den Prokrastinierer urplötzlich: Verdammt, langsam wirds eng. Ich muss jetzt anfangen, sonst wird das alles nix mehr! Und er begibt sich mitunter in schwindelerregende Eigenrotation, er läuft heiß, er ist mit vollem Eifer dabei, schiebt Überstunden und unterscheidet nicht mehr zwischen Tag und Nacht. Es wird gearbeitet, solange es etwas zu arbeiten gibt! Der Termin muss unter allen Umständen eingehalten werden. Und er schafft es! Darüber freut er sich am meisten, denn »Meine Güte, war das ein Akt! Was ich da geleistet habe. Toll, wie ich das mal wieder geschafft habe. War aber ganz schön anstrengend.«
Böswillig oder auch ehrlich formuliert kann man hier von einer künstlichen Übersteigerung der eigenen Leistung sprechen. Der Volksmund hätte ein Sprichwort mit Mücken und Elefanten parat. Ohne den selbst erzeugten Zeitdruck hätte man diese Aufgabe – sei es die Dissertation, die Präsentation oder sonsteine Aufgabe – ohne viel Aufsehen zu erregen, einfach in aller Ruhe machen können. Aber nein, man steht gefühlt vor dem Karoshi (japanisch: Tod durch Überarbeiten) und gratuliert sich selbst, dass man es wieder einmal geschafft hat.

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Abschlussarbeiten über Prokrastination – Britta Nitsch

Britta Nitsch studierte Kommunikationsdesign an der FH Münster. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit »Prokrastination« konzipierte, illustrierte und gestaltete sie ein hilfreiches und amüsantes Buch über das Aufschieben von Wichtigem. Wir haben sie zum Inhalt ihrer Arbeit interviewt.

Prokrastination bezeichnet das Verhalten, als notwendig aber unangenehm empfundene Arbeiten immer wieder aufzuschieben.

Was verbirgt sich hinter dem Wort Prokrastination und welche Ursachen gibt es?

Stolz betrachtet man sein Werk. Hier mit Photoshop einen künstlichen Lichtreflex zu setzen, wäre nicht gelogen: Dieses Kühlschrankinnere sieht genauso sauber aus, wie es ist: Keimfrei. Beim Reinigen der Fächer für Eier und Getränke sind einem sogar die Gummidichtungen am Rand der Tür negativ aufgefallen. Kein Krümelchen versteckt sich mehr in den Einstülpungen der Dichtungen, kein Hauch von Staub kann mehr Konglomerate mit anderen Materieformen bilden. Dummerweise müsste man eigentlich am Schreibtisch sitzen und ganz anderes erledigen. Warum tut man das nur nicht? Und das immer und immer wieder wie ein Unbelehrbarer?

Max Goldt hat das Prokrastinieren sehr treffend beschrieben: »Der Begriff bezeichnet ein nicht zeitmangelbedingtes, aber umso qualvolleres Aufschieben dringlicher Arbeiten in Verbindung mit manischer Selbstablenkung und zwar unter Inkaufnahme absehbarer und gewichtiger Nachteile.« Dabei richten sich die Konsequenzen nach dem Grad des Härtefalles – manch einer bekommt die Aufgabe mit ein bis zwei Nachtschichten in den Griff, andere werden zum Beispiel exmatrikuliert, weil sie jedwede Chance prokrastiniert haben eine bestimmte Prüfung zu absolvieren.

Prokrastination tritt lediglich als Verhalten an die Oberfläche, das durch einen inneren Konflikt verursacht wird. Beim Erledigen von Aufgaben stehen uns Denkfehler im Weg, wie etwa ein zu geringes Selbstwertgefühl, Versagens- und Erfolgsängste, Unentschlossenheit, eine Work-Life-Balance in Schieflage oder Perfektionismus. 

Welche positiven Seiten hat Prokrastination? Wann ist Prokrastination etwas völlig normales und ab welchem Punkt kann man von einer Krankheit sprechen? Wann macht es Sinn sich professionelle Hilfe zu holen?

Prokrastination hat immer einen bitteren Nachgeschmack. Man schiebt eine Verpflichtung wie zum Beispiel die Steuererklärung vor sich her, weil man keine Lust hat auf Belege sammeln und Formulare ausfüllen. Die Aufgabe an sich ist gar nicht so wild, nur durch das Aufschieben erhöht sich künstlich ihre Gewichtung. Schließlich meldet sie sich alle paar Tage im Hinterkopf zurück: Gott, ja, die Steuer muss ich auch noch machen (d. h. ich armer Wicht, ich habe ja sonst schon so viel um die Ohren). So wird aus einer Mücke ein Elefant. Spart man sich das Prokrastinieren, kann man zeitnah einen Haken an diese Aufgabe machen, hat sie aus dem Kopf und hat Zeit und Energie für anderes – das wäre dann eine völlig normale Herangehensweise.

Hilfe sollte man sich holen, wenn Berufs- und Privatleben unter dem Aufschieben leiden. Oftmals hilft schon ein kleiner Diskurs in die eigenen Synapsenwindungen gepaart mit ein wenig Ruhe. Also Facebook und Twitter einmal links liegen lassen und sich die Zeit nehmen ein paar innere Knoten zu lösen und Fragen zu beantworten. Und schon wird einem klar, warum man die Hochzeitseinladung eines befreundeten Paares noch nicht beantwortet hat, obwohl man schon mehrfach daran erinnert wurde – man will dort gar nicht hingehen, weil der Typ irgendwie doch hohl und das Mädel nervig ist. 

Was genau hat Dich an dem Thema interessiert und auf welche Aspekte beziehst Du Dich besonders mit Deiner Abschlussarbeit?

Ich finde es faszinierend wie ausgiebig und dauerhaft wir uns selbst manipulieren können und wie leidensfähig wir dabei sind. Wir können uns Beziehungen jahrelang schön reden, weil wir die Konsequenzen einer Trennung scheuen. Manch einer geht jahrelang unglücklich zur Arbeit obwohl er gerne etwas ganz anders machen möchte. Es ging mir in dem Buch also darum zu verstehen, wovor sich Prokrastinierer schützen wollen, wie diese Verhaltensmuster entstehen und wie einfach es stellenweise ist, sie zu durchbrechen. Ziel ist es, seine Verhaltensweisen zu hinterfragen und mit kleinen, einfachen Hilfsmitteln größtmögliche Erfolge und Verbesserungen zu erzielen.

Was war die wichtigste Erkenntnis die Du gewonnen hast?

Manchmal sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Richard David Precht fasst das so zusammen: »Unsere beispiellose Freiheit hat uns nicht nur glücklich gemacht. Tag für Tag zeigt sie uns zugleich, was wir nicht haben. Sie nötigt uns zur Wahl, zum Vergleich, zu Eifersucht, Neid und Frust. Wenn das Leben unser Großeltern scheiterte, lag es an den Umständen. Wenn unser Leben nicht das ist, was wir uns wünschen, so liegt es an uns selbst. Eine finstere Bedrohung. (…) Der Selbstbedienungsladen für die Zutaten unseres Lebens ist unüberschaubar geworden.«
Wir scheinen uns selbst zu verlieren in einem Wirrwarr aus Möglichkeiten und permanenter Reizüberflutung. Da kann es leicht passieren, dass man sich gesellschaftlich unter Druck gesetzt fühlt und man Prioritäten falsch setzt.

Hat sich durch die Auseinandersetzung mit dem Thema für Dich nachhaltig etwas verändert? Gelingt es Dir deine Erkenntnisse im Alltag umzusetzen?

Ich habe meine großen Lebensziele besser im Blick. Erstmal weil ich mir die Zeit genommen habe darüber nachzudenken, was mir eigentlich wichtig ist. Und wenn ich merke, dass ich eine Aufgabe oder Tätigkeit vermeiden will, kann ich mich am eigenen Schlafittchen packen, mir klar machen, dass diese Aufgabe nur ein kleiner Teilbereich eines größeren Ziels ist, das ich erreichen will und schon habe ich mich selbst motiviert. 

Würde es Sinn ergeben das Thema im Studium oder bereits in der Schule zu behandeln? Falls ja, in welchem Rahmen?

Das würde auf jeden Fall Sinn machen. Gerade im Studium ist Selbstorganisation wichtig und strukturiertes Vorgehen hilfreich. Es gibt einfache Methoden sich seine Woche zu planen, damit man den Anschluss nicht verpasst. Wichtig ist dabei die Politik der kleinen Schritte. Es macht also keinen Sinn, zu sagen: Nächste Woche muss ich die ganze Zeit lernen, ich habe für nichts anderes Zeit. An solch hohen Zielsetzungen scheitert so manch Prokrastinierer, weil das Unterfangen von vornherein unrealistisch ist und er sich unter Druck setzt. Sinnvoller ist es, sich z.B. die Klausurvorbereitung in verdauliche Portionen von ein paar Stunden zu unterteilen und sich danach mit einer Pause zu belohnen, in der man dann auch gerne Freunde im Park zum Grillen trifft. Das motiviert für die nächste Lerneinheit.
Neben konkreten Methoden zum Zeitmanagement finde ich eine Auseinandersetzung mit den eigenen Zielen, Werten, Ängsten, Unsicherheiten  und Lebensvorstellungen wichtig, da man die Prokrastination hier an der Wurzel allen Übels packen und in ihre Schranken weisen kann.

Ist die Thematik für bestimmte Alters- und Berufsgruppen oder Kulturen besonders relevant? Wer ist betroffen, wer bleibt verschont und was sind die Ursachen dafür?

Zum Prokrastinieren braucht es die Möglichkeit der freien Entscheidung. Beruflich kann es hier also vermehrt Kreative treffen und weniger den Akkordarbeiter am Band. Auf ein bestimmtes Alter würde ich das Aufschieben nicht begrenzen wollen. Getreu dem Sprichwort »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr« wäre eine rechtzeitige Auseinandersetzung mit dem Thema aber von Vorteil.

Bist Du auf vorhandenes Material mit konkretem Designbezug gestoßen? Kannst Du Bücher oder Internetseiten empfehlen?

Ich habe mich unter anderem auch dem Thema Prokrastination und der Aufbereitung als Buch gewidmet, weil ich bei meiner Recherche zu dem Schluss gekommen bin, das Selbsthilfebücher selbst Hilfe brauchen. Gerade bei der visuellen Aufbereitung war ich durchweg enttäuscht. Ich habe mich durch unstrukturierte, langatmige und Bilderlose Textwüsten lesen müssen …

Ein Buch, dem es zumindest nicht an Humor mangelt, ist »Dinge geregelt kriegen« von Kathrin Passig & Sascha Lobo (Rowohlt Berlin).

In welcher Form greifst Du das Thema gestalterisch auf bzw. wie setzt Du es visuell um in Deiner Arbeit? Welche Elemente, Farben oder Regeln spielen eine besondere Rolle und warum?

In der Gestaltung finden sich die elementaren Verhaltensweisen und Züge des Prokrastinierens wieder. 
Wie schwindende Zeit zählen die Seitenzahlen einen unnachgiebigen Countdown gen NULL.
Die Schrift »Akkurat« unterstützt den klar strukturierten Inhalt und steht gewissermaßen auch für die unangebrachte Akribie, mit der Prokrastinierer ihre Zeit mit weniger wichtigen Aufgaben verbringen (z.B. das komplette Kühlschrankinnere putzen oder 21,3 m Fußleisten streichen anstatt für mein Diplom zu recherchieren). In Kontrast dazu tritt die hingehuschte Handschrift, die von Eile und Zeitdruck mit der erbarmungslos nahenden Deadline zeugt. Selbige Erscheinungen des Prokrastinierens sind auch in den Grafiken und Illustrationen wiederzufinden. Selbst der Satzspiegel wurde aufgeschoben und ist konsequent asymmetrisch rechts.

Textauszug:

Aus dem Kapitel »Artenkontrolle & Symptomatik«

Stufe 1: PROKRASTINATION mit Wichtigerem
Diese Art ist generell das produktive Prokrastinieren. Man kann sagen, dass diese Prokrastinierer wissen, wie der Hase läuft. Die Marotte der Saumseligkeit wird genutzt, um wichtige Dinge durch andere noch viel wichtigere Dinge, die wirklich wichtiger sind, aufzuschieben. Sie nutzen den Druck der Deadline, um Kreativität, Effizienz und Produktivität optimal einzusetzen (vgl. Seite 36 Deadline). Hier kann alles so bleiben, wie es ist. Sie sind in der Lage sich zu organisieren. Ob es sich hierbei überhaupt um Prokrastination handelt, ist eine Frage der Begriffsauslegung. Mit einem Augenzwinkern kann man wohl ja sagen.
»Ich wollte diesen Essay schon seit Monaten schreiben. Warum fange ich heute endlich damit an? Weil ich endlich die Zeit gefunden habe? Nein. Ich müsste Hausarbeiten benoten, Lehrbücher bestellen, einen Antrag begutachten, Dissertationsentwürfe lesen. Ich arbeite an diesem Essay, um dem allen aus dem Weg zu gehen.« John Perry, Philosophieprofessor in seinem Essay: Structured Procrastination

Stufe 2: Prokrastination mit weniger Wichtigem
Hier wird es kritisch. Diese Saumseligen wählen als Beschäftigungsmaßnahmen weniger wichtige Dinge. Ihr wichtiges Hauptprojekt liegt brach, während sie sich mit mehr oder minder banaleren Tätigkeiten beschäftigt vorkommen. So wird wertvolle Zeit verschwendet, die dann leider an anderer Stelle schmerzhaft vermisst wird. Oftmals steht man sich selbst einem produktiven Arbeiten im Weg und das eigene Schaffen und im schlimmsten Fall große Teile des eigenen Lebens werden als anstrengender und kräftezehrender wahrgenommen, als sie sind. Dadurch schwindet die eigene Antriebsenergie schneller und mir nichts dir nichts befindet man sich im endlosen Kreislauf der Prokrastination. Je nach Ausprägung können die negativen Auswirkungen von amüsant, nervend, störend, hinderlich bis zu lähmend empfunden werden.

Stufe 3: Prokrastination mit gänzlich Unwichtigem
Anhänger dieser Art wären in freier Wildbahn vom Aussterben bedroht. Gehört man hierzu, ist akuter Handlungsbedarf vorhanden, der am besten von qualifizierten Fachleuten langfristigbegleitet wird. Das Prokrastinieren nimmt solche Ausmaße an, dass die Zeit mit völlig unwichtigem verschwendet wird. Oftmals verstreicht sie sogar mit einem puren Nichtstun. Man kommt im Leben nicht voran, tritt auf der Stelle, der Antrieb geht gen Null ebenso wie der Selbstwert. Das wirkt sich selbstredend auf die Lebensqualität aus. Depressive Züge sind vorprogrammiert, Selbstmordgedanken nicht ausgeschlossen. Diese Prokrastinierer sind allerdings Härtefälle, die eher die Ausnahme bilden.

Erregungstyp
Der Prokrastinierende wartet auf einen ganz speziellen Druck, der ihn in den Zustand der positiven Erregung versetzt. Er zögert den Beginn einer Aufgabe solange hinaus, bis es ihm in den Händen kribbelt, endlich anzufangen. Er sieht sein geschrumpftes Zeitkontingent als Ansporn, als Hilfestellung sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Übertreibt er es allerdings und muss am Schluss oftmals bis zum Umfallen arbeiten, um alles zu schaffen und es wird anstrengender als geplant und auch ganz schön kräftezehrend, wird es für ihn kritisch: Da haben wir sie, die Übersteigerung der Aufgabe, die dazu tendiert, aus einer Mücke einen Elefanten werden zu lassen. Wird der Druck zu hoch dosiert, gibt es zudem einen guten Nährboden für Unsicherheiten und Selbstzweifel. Die wiederum lassen das Entscheiden schwer fallen und Arbeitsblockaden tauchen schneller auf, als einem lieb ist. Der Grad zwischen positiv antreibender Erregung und kräftezehrendem Geisteszustand ist somit äußerst schmal und mit Vorsicht zu genießen.
Calvin: »Kreativität lässt sich nicht einfach aufdrehen wie ein Wasserhahn. Man muss schon in der richtigen Stimmung sein.« Hobbes: »In welcher Stimmung?« Calvin: »Torschlusspanik.« Bill Watterson: »Calvin & Hobbes«

Vermeidungstyp
Dieser Prokrastinierende folgt dem Vermeidungsprinzip. Diffuses unterschwelliges Unbehagen hält ihn vom Beginn der Aufgabe ab, er schiebt sie hinaus, er möchte ihr aus dem Weg gehen. Das klappt aber in den wenigsten Fällen. Saumselige dieser Art machen sich das Leben mitunter extrem schwer. Sie möchten vor ihren Ängsten und Unsicherheiten fliehen, aber das ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Diese Sportsfreunde werden den Prokrastinierer immer wieder Heim suchen, um ihn herauszufordern. Es sei denn, man stellt sich ihnen und wagt sich an ihre Überwindung. 

Künstliche Übersteigerung
Da säumelt man also vor sich hin, tut dies und jenes ohne rationalen Sinn für Verstand – ja, man weiß, DIE wichtige Aufgabe steht immernoch an, man sollte langsam mal anfangen, aber man hat ja schonmal ein bißchen was darüber recherchiert, schonmal mit Mitmenschen über deren Meinung darüber gesprochen und im Internet die ein oder andere Infoquelle gefunden … Ja. Und dann eines Tages packt es den Prokrastinierer urplötzlich: Verdammt, langsam wirds eng. Ich muss jetzt anfangen, sonst wird das alles nix mehr! Und er begibt sich mitunter in schwindelerregende Eigenrotation, er läuft heiß, er ist mit vollem Eifer dabei, schiebt Überstunden und unterscheidet nicht mehr zwischen Tag und Nacht. Es wird gearbeitet, solange es etwas zu arbeiten gibt! Der Termin muss unter allen Umständen eingehalten werden. Und er schafft es! Darüber freut er sich am meisten, denn »Meine Güte, war das ein Akt! Was ich da geleistet habe. Toll, wie ich das mal wieder geschafft habe. War aber ganz schön anstrengend.«
Böswillig oder auch ehrlich formuliert kann man hier von einer künstlichen Übersteigerung der eigenen Leistung sprechen. Der Volksmund hätte ein Sprichwort mit Mücken und Elefanten parat. Ohne den selbst erzeugten Zeitdruck hätte man diese Aufgabe – sei es die Dissertation, die Präsentation oder sonsteine Aufgabe – ohne viel Aufsehen zu erregen, einfach in aller Ruhe machen können. Aber nein, man steht gefühlt vor dem Karoshi (japanisch: Tod durch Überarbeiten) und gratuliert sich selbst, dass man es wieder einmal geschafft hat.

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