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Am Anfang war das Chaos…

Artikel von Christian H. Riss

Am Anfang war das Chaos. Weil das ja nicht so bleiben konnte, beauftragten die alten Griechen den Demiurg, der aus Güte und geleitet von Vernunft, den Kosmos aus dem Chaos der bereits bestehenden Materie ordnen und gestalten sollte – so zumindest berichtet es uns Platon in seinem Timaios. Vernunftgeleitetes Gestalten, das klingt für den Anfang ja schon mal gar nicht so schlecht. Im Rückblick und ausgestattet mit der dazu gehörenden besserwisserischen Überheblichkeit stellen wir allerdings schnell fest, dass es die Alten mit der Einführung der Ordnung wohl leider etwas übertrieben haben.

Menschliche Kultur begann – jedenfalls soweit sie schriftlich erfasst und überliefert ist – mit dem strengen Top-Down Management Stil, den die Theokratien Samarra, Assur, Babylon und so weiter im Zweistromland etablierten und der in den nächsten Jahrtausenden rund ums Mittelmeer oft und gerne nachgeahmt wurde. (Die Chinesen waren hier ausnahmsweise mal nicht die Nachahmer, sondern haben diese Art der Gesellschaftsordnung nach allem was wir wissen, recht zeitgleich selbst erfunden.)

Jedenfalls wird in der Bibel und ähnlichen Publikationen über diesen ersten »Culture Shift« nicht umsonst als Vertreibung aus dem Paradies berichtet; Leben hieß eben auf einmal nicht mehr Sammeln und Jagen, was das Land so hergibt, und ansonsten die Sonne genießen, sondern der Ackerkrume unter Schweiß und Tränen ein paar Körner abzuringen, und sich dabei einen Sonnenbrand zu holen. Die Arbeitszeit zur Sicherung des täglichen Kalorienbedarfes stieg von 3-5 Stunden bei Jägern und Sammlern auf 10-12 Stunden. Kein Wunder, dass sich die Leute darauf nur durch die Heilsversprechen oder vielmehr Strafandrohungen ihrer Herrscher-Götter einließen, denen sie im Gegenzug dafür auch noch ein Zehnt abgeben durften.

Andererseits: was unter bestimmten Gesichtspunkten unvernünftig aussieht, folgte einfach dem Gesetz der Notwendigkeit. Je mehr Jäger es gibt, desto weniger Chancen hat das Wild, und auch vor 15.000 Jahren wurden schon Tierarten durch Überjagung ausgerottet, womit sie nicht mehr für’s Abendessen zur Verfügung standen.
Durch die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht ließen sich weitaus mehr Leute ernähren als durch Jagen und Sammeln, und vor allem: es stieg die Planungssicherheit. (Eine sehr schöne Alternative zu dieser herkömmlichen Darstellung der neolithischen Revolution beschreibt übrigens der Münchner Biologe und Naturhistoriker Josef H. Reichholf in seinem Buch »Warum die Menschen sesshaft wurden«: Tempelanlagen mit angrenzendem Ackerbau wie Göbekli Tepe in Anatolien entstanden seiner Ansicht nach aus der Absicht, aus dem Getreide Bier zu brauen, um sich kultisch religiös zu betrinken. Ich plädiere dafür, diese Begründung ebenfalls unter dem Stichwort »vernunftgeleitete Ordnung« durchgehen zu lassen.)

Zurück zur Planungssicherheit: aus der Möglichkeit zu planen entsteht mit steigender Komplexität und Größe der Herrschaftsräume die Notwendigkeit zu planen. Daraus und aufgrund der nun möglichen Überschüsse entwickelte sich eine privilegierte Kaste von Planern, die gut daran tat, das arbeitende Volk im Unwissen zu halten. Als Gegenleistung muss das Management die volle Verantwortung für Erfolg und Misserfolg übernehmen und die Versorgung von Stamm, Volk oder Belegschaft – je nach Epoche – mit allem Lebensnotwendigem garantieren. In einer funktionierenden theokratischen Ordnung begreifen beide Seiten diese Übereinkunft als Vertrag.

Wir haben nun also eine Struktur mit voneinander abhängigen Hierarchie-Ebenen, die es erlaubt, Großprojekte wie Pyramidenbau oder die Entwicklung eines Airbus A380 zu organisieren, durchzuführen und zu finanzieren. Allerdings: für Freiheit und die Kreativität des einzelnen ist hier kein Platz. Das Ganze funktioniert gut, solange – wie beim Steine schleppen – keine Kreativität gefragt ist. Das funktioniert, solange der Vertrag eingehalten wir, dass das Management die Verantwortung übernimmt und sich um die Versorgung kümmert. Und das funktioniert vor allem, solange das Wissen in den oberen Etagen konzentriert bleibt.

Es hat in der Weltgeschichte rund um dieses Thema herum immer wieder mal rumort und Versuche gegeben, die althergebrachte Ordnung umzustürzen. Die entscheidende Veränderung ergab sich aber erst 1700 Jahre, nachdem ein Mann mit an sich ganz vernünftigen Ideen gekreuzigt worden war, weil er sich zu der Behauptung verstiegen hatte, der einzige Sohn eines Gottes zu sein der er selber ist und der den Menschen ihre Sünden vergeben würde, indem er sich von ihnen ermorden lässt.
Als alle 3 Faktoren gleichzeitig nicht mehr erfüllt waren, brach die Französische Revolution aus: Zum Ersten hatte die Renaissance im Sinne einer Neugeburt humanistischer Ideale gute Vorarbeit geleistet, die industrielle Revolution war in vollem Gange und damit war Kreativität zu einem entscheidenden Wirtschaftsfaktor geworden: Erfindungen wie Buchdruck, Dampfmaschineoder Chronometer brachten ihren Erfindern und seinem Gemeinwesen Ruhm, Einfluss und Geld.

Zum Zweiten hatte sich die Führungsschicht mal wieder soweit von Recht, Ordnung und vor allem der Realität entfernt, dass sie die Versorgung breiter Bevölkerungsschichten mit dem Lebensnotwendigen nicht mehr garantieren konnte oder wollte.
Zu guter Letzt sorgte die oben erwähnte Erfindung des Buchdruckes dafür, dass sich die Ideen der Aufklärung auch im sogenannten einfachen Volk breit machen konnten: die Befreiung von hergekommenen Dogmen und Vorurteilen. Laut Kant der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, der zu freiem, aber bewusst moralischem und ethischem Handeln führt.

Aus dem Angelsächsischem hat sich bei uns in den letzten Jahren die Verwendung des Begriffes »Aussortieren« von »to sort out« im Sinne von »Unnützes, Belastendes entfernen« eingebürgert. Ein solches Aussortieren machte also den Weg frei zur Informationsgesellschaft, die wir heute erleben. Nicht ohne Umwege: Zwischendurch wurde gerade von den Leuten, die sich den Gedanken der Gleichheit und Brüderlichkeit auf die Fahne geschrieben hatten, die Idee der Planwirtschaft entwickelt. Diese ersetzte die allwissende Führungsschicht durch den allwissenden Plan. Was bedeutete, dass diese Gesellschaftsordnung zwar nicht mehr dem Namen nach, aber im Ergebnis wieder theokratisch war. Inklusiver zweier neuer Nachteile: die fehlende »Personalisierung« (mit den alten Gott-Königen konnte man sich wenigstens noch identifizieren) sowie die mangelnde Flexibilität im Reagieren auf spontan auftretende Ereignisse. Kein Wunder also, dass das weltgeschichtlich gesehen nicht lange halten konnte; vor allem in einer Welt, in der die Planbarkeit immer weiter abzunehmen scheint, und in der im Gegenzug dazu die Reaktionszeiten immer kürzer werden müssen.

Wie der aktuelle Stand der Planung in einer sich immer schneller ändernden Welt ist, beschrieb Wolf Lotter vor zwei Monaten in der Brandeins-Ausgabe »Auf Sicht« in etwa so: Terroranschläge, bahnbrechenden Erfindungen, ein Vulkan auf Island, der tagelang den Flugverkehr lahmlegt; solche von Zukunftsforschern sogenannten »Wildcards« hat es immer schon gegeben. Aber im Unterschied zu früher sind sie heute ein globales Medienereignis. Was uns dabei zu schaffen macht, ist nicht die Kommunikation, sondern die Interpretation: was ist wichtig, was nicht? Was halten andere für wichtig? Soll ich beim Auftreten einer Vogel-, Schweine- oder sonstigen Grippe Pharmaaktien kaufen, oder wissen alle außer mir dass das wieder nur ne Blase ist?

Für unsere Betrachtung bedeutsam ist, dass sich die oben beschriebene gesellschaftliche Entwicklung parallel im Businessleben spiegelt – beziehungsweise beide sich befruchten und beeinflussen. Gesellschaftliche Änderungen und Neuerungen wiederholen sich im Kleinen wie im Gr0ßen in unserem Business. Die persönlichen und wirtschaftlichen Freiheitsgrade werden immer größer, die Entscheidungszyklen immer schneller, althergebrachte Ordnungen funktionieren nicht mehr – wir leben in einer »unordentlichen« Zeit. Die Phänomene der freelancenden Projektnomaden, der Dauerpraktikanten ohne Aussicht auf einen Job, aber auch die Erwartung der dauernden Erreichbarkeit und Verfügbarkeit sind ein Ausdruck dafür. Den Tag zu planen ist nicht möglich, wenn man erwartungsgemäß auf alles sofort und flexibel reagiert. Aus Carpe Diem wird Cave Diem.

Wir müssen uns die Ordnung neu erfinden. Der erste Schritt zur Ordnung ist die Ordnung in der Zeit. Die Entschleunigung des Alltags und sich selbst die Regel setzten, was darf, was kann, was muss wann passieren. In einem Vortrag von Jan Teunen hörte ich den schönen Satz, »dass bei Dauerstress die linke Gehirnhälfte zunächst über die rechte stolpert – bis es nichts mehr zu stolpern gibt, weil die rechte ausgetrocknet ist. Was dem Menschen dann verloren geht, sind Kreativität und Intuition.« Kreativität und Intuition brauchen wir aber dringend für den zweiten Schritt, der einem Ausspruch Tucholskys folgt: »Die Basis einer gesunden Ordnung ist ein großer Papierkorb.« Unnützes und Belastendes aussortieren entlastet Kopf und Schreibtisch. Und gibt uns die Muse und die Kraft, uns mit den Vorteilen und Möglichkeiten unserer unordentlichen Zeit zu beschäftigen: unendliche gestalterische und technische Freiheiten.


Quellenangabe: Die Idee des »Culture shift« entstammt dem Buch »macroshift« von Ervin Laszlo