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Ordnung ist das halbe Leben. Die andere Hälfte ist Unordnung

Vorsicht Glas 4

Kolumne von HD Schellnack

Kommt man auf das Thema Ordnung, scheint es oft nur schwarz und weiß zu geben. Die Welt teilt sich in Ordnungsfanatiker und Chaoten plus natürlich jene Chaoten, die gern Ordnungsfanatiker wären (seltsamerweise gibt es kaum Ordnungsfanatiker, die gern chaotisch wären, der Ordnungsfimmel scheint also gesellschaftlich Zielcharakter zu haben). Ich habe das nie verstehen können, schon weil es »Ordnung« nicht gibt, sondern nur die Annäherung daran. Kaum mit dem Aufräumen fertig, sammelt sich schon wieder Staub und Detritus, kaum ist die Mailbox entrümpelt, kommt neuer Spam, auch ein sortierter Bücherschrank ist nur von kurzer Dauer, bis die neuen Titel sinnvoll einsortiert werden müssen und der Platz zu eng wird usw. Jeder Ordnungsakt trägt also schon den nächsten in sich. Ordnung ist demnach kein Endzustand, sondern ein Prozess, kein Ziel, sondern eine permanente Methodik des Auslesens, Bewertens, Sortierens. In der digitalen Welt lassen sich Ordnungszustände tatsächlich in Form von Archiven als »Ziel« mittelfristig stabil erreichen, aber auch hier ist jede kleine Veränderung der Struktur, jeder Neuzugang, jede Erweiterung von Parametern eine Herausforderung – weswegen viele IT-ler in großen Firmen Veränderungsprozessen meist konservativ gegenüber stehen. Jede neue Ordnung ist für sie nämlich zunächst eine Unordnung in der Datenstruktur.

Ordnung als Prozess ist der alltägliche Kampf gegen Erosion und das schleichende Gift der Broken-Window-Theorie, nach der die inkrementale Ansammlungen schleichender kleiner Unordnungen irgendwann zum Chaos führt. Zu ernst genommen, kann dieser Prozess aber zu einer paranoiden Furcht vor jeder Form von Veränderung und Restrukturierung führen, alles, was das gewohnte System verändert, ist wie ein Virus abzuwehren.

Im Spannungsfeld jenseits der Extreme von Messie-Syndrom und Waschzwang findet sich ein dynamischer Kreislauf von Aufbau, Veränderung, Zerfall, Re-Iteration, ein nicht enden wollender Lebensprozess. Endgültige Ordnung wäre in einem solchen Kreislauf starre Stagnation. Wer Ordnung als Endziel betrachtet, hat gute Chancen, unglücklich zu werden, an dem zu hohen Ziel zu scheitern, zum Kontrollfreak zu mutieren, »ungemütlich« zu sein. Entspannter lebt, wer versteht, das Unordnung Teil des Seins ist, nahtlos zu »Ordnung« gehört. Beide sind nicht Antipoden, sondern ein Integral.
Das hat nicht nur mit der Frage zu tun, wie der eigene Schreibtisch aussieht – sondern auch mit Design als Vorgang des »Ordnens«. Designer – wie Architekten, aber anders als »echte« Künstler – sind mit Lösungen, Wirkungen und dem sinnvollen Gliedern von Elementen verschiedenster Art befasst, angefangen mit Typographie, die die Welt in Buchstaben zerlegt und sie von oben nach unten, links nach rechts in eine scheinbare »Ordnung« bringt. Designer haben deshalb in ihrer Arbeit oft den Blick auf Ordnungssysteme als anzustrebender Endzustand. Ein Corporate Design ist für sie oft ein gefrorener Zustand, in einem Manual, einem Regelwerk, festgehalten. Und wehe, da macht jemand Unordnung und benutzt nicht die Hausschrift oder macht das Logo kleiner als 1/21tel der Seitenbreite. Der Designer kämpft immer (ohnmächtig) gegen die Windmühlen der Entropie, die von allen Seiten an seiner perfekten Ordnung zerren. Das Marketing will einen Störer, die Sekretärinnen gestalten selbst einen Newsletter in ComicSans, der CEO ist etwas älter und will eine größere Schrift, die nicht ins Raster passt. Uns Designer bringt das zum Verzweifeln – denn wir sind gewohnt (wenn wir sauber arbeiten) von der ersten Sekunde an zu gliedern, zu rationalisieren, Entscheidungen zu treffen, den Optionen-Dschungel zu reduzieren und Klarheit zu generieren. Nach den ersten Skizzen legen wir meist schon das Regalsystem eines Rasters an, damit alles einen »Sinn« hat und jedes Bausteinchen am rechten Ort liegt – und die digitale Arbeitsumgebung unterstreicht dieses Gefühl, Ordnung herstellen zu können. Und wie jeder Sammler, der in seiner Vitrine sorgsam alle Objekte ausgerichtet und abgestaubt hat, werden wir unfroh, wenn da jemand auf einmal alles anfasst und zerzaust. Die Folge ist, dass heute zu viele Corporate Designs wie Powerpoint-Templates wirken, austauschbar und ein wenig langweilig, vor allem bei größeren Unternehmen, weil sie mit einfachsten Strukturen versuchen, die Unordnung in den Griff zu kriegen, Design zu schaffen, das auch der dümmste anzunehmende User noch handhaben kann. So herablassend und gleichförmig sieht es dann aber natürlich auch aus. Am Ende solcher Prozesse stehen antiseptisch saubere Informationsarchitekturen, – clean wie Küchen, in denen alles glänzt und blitzt, in denen man aber nicht essen kann (geschweige denn zu kochen wagt), weil man Angst haben muss, Fingerabdrücke zu hinterlassen. Ich habe CD-Prozesse erlebt, in denen Geschäftsleiter laut überlegten, ob man nicht gleich einen unternehmensweiten unzweideutigen Dresscode festschreiben solle – der neurotische Wasch- und Ordnungszwang ist also nicht nur bei Designern verbreitet, sondern auch bei Arbeitgebern, die sich natürlich erst recht alles steuer- und kontrollierbar wünschen (auch den Designer selbst). Diese Form von »Ordnung« ist nur leider das Ende jeder Innovation – und zudem nervenaufreibend für alle Beteiligten.

Ob im Alltag oder im Design – es hilft, Ordnung nicht als festen, materiellen Zustand auf Dauer zu begreifen, sondern als flüchtiges Ziel, als Blaue Blume. Zentral ist, dass die Unordnung ein integraler Bestandteil, sogar ein Sinn der Ordnung ist. Wir spülen nicht, um saubere Teller für immer in den Schrank zu stellen – sondern, um davon essen zu können. In diesem Zweck des Tellers ist das nächste Schmutzig-sein unabwendbar eingebaut. Der Teller muss sowohl dreckig als auch sauber sein dürfen, um als Teller zu funktionieren. Ein nur sauberer Teller ist Wanddekoration, ein nur benutzter Teller ist zum Essen zu unhygienisch. Design, verstanden als bewusste Balance von Ordnungs- und Unordnungszuständen, kann das verstehen und anstelle einer toten (latent faschistoiden) »Endordnung« auf ein kybernetisches, navigatorisches System setzen, das permanent Ordnung und Unordnung, die Energie von zerstörerischen Kräften und von systemischen Selbstregelungsvorgängen, neu austariert.

Im Idealfall heißt das, dass du als Designer langfristig mit einem Kunden zusammen arbeitest und – vor allem – sein Vertrauen genießt und nicht nur als Architekt eines Systems fungierst (womit unweigerlich jedes Design anfängt), also eine eigene gestalterische »These« umsetzt, sondern mittelfristig das selbstgeschaffene System offen für äußere Einflüsse hälst. Das heißt, dass du nachfragst, Feedbackschleifen ermöglichst und mit Schumpeterscher Zerstörungsfreude zum Advocatus Diaboli der eigenen Arbeit wirst, die selbstgeschaffene Ordnung in Frage stellen und durch eine Antithese redefinieren kannst. Um so in der Synthese, also durch das Beibehalten guter Elemente des Systems-Eins und durch die Aufnahme neuer Einflüsse und Unordnungsfaktoren, die mit der Zeit emergieren, zu einem System-Zwei kommt.

Die evolutionäre Balance zwischen einer systemischen, wiedererkennbaren Identität und dem Verhindern von Stagnation ist die Hauptaufgabe eines guten, lebendigen Corporate (und natürlich auch Editorial) Designs. Übrigens auch im Web, wo diese Prozesse schneller und leichter stattfinden als jemals zuvor, weil die Feedbackpotentiale erhöht sind. Hier ist das »Aushandeln« von Nutzbarkeit und Design zwischen Anbieter und Nutzer bereits weiter etabliert. Im Web gibt es keine gefrorene Ordnung mehr, sondern eine permanente Adaption an Entropieeffekte durch Updates und insofern ein klares Verständnis dafür, dass Designer und Programmierer langfristigen Service bieten, ideal durch einen Rahmenvertrag. Der Übergang vom Designverständnis weg von einer punktuellen »Putz« Maßnahme hin zu einer langangelegten kultivierenden »Gärtner«-Tätigkeit ist hier bereits einen Schritt weiter, selbst wenn der Kunden Inhalte selbst via CMS einpflegt.

Diese Sicht von »Ordnung« nicht als Zustand, sondern als Prozess bzw. von »Unordnung« (also dynamischen, unberechenbaren Input) als kreativen, unverzichtbaren Bestandteil von Kommunikation ist also ein Paradigmenwechsel für Corporate Design, der allein durch den zunehmenden Umzug auf fluide (und auch soziale) Medien unverzichtbar wird. Der Weg führt uns von mechanistischen und manipulativen Ordnungs- und Lernmodellen, die den Nutzer/Empfänger als passives Element einplanen, zu einer kybernetischen und organischen Idee von Design als DNS und Hyper-Kohärenz eines Unternehmens/Vorhabens, bei dem Mitarbeiter und Kunden zu wichtigen Schaltmomenten in einer Art komplexen Spiel werden ... und nicht länger als »Unordnung« missdeutet werden.

Gute Nachrichten für uns Designer – denn die Zusammenarbeit wird hierdurch im Idealfall intensiver, offener, vernetzter und spannender... und wir alle sind befreit vom virtuellen Ordnungswahn der letzten Dekaden. Der Designer wandelt sich von der Putzkraft zum Organisationspsychologen.