Marie Zieger studierte Informationsdesign an der FH Joanneum in Graz. In der Thesis ihrer Bachelorarbeit »Fifty-Five Things. Perfektion und Prokrastination in der Leistungsgesellschaft« setzte sie sich mit der modernen Hochleistungsgesellschaft auseinander und entwickelte als Gegenstück zu Perfektionswahn, Kontrollsucht und Leistungsimperativ das Buch »Fünfundfünfzig Dinge, die man tun sollte, bevor man stirbt«. Wir befragten sie zum Thema Prokrastination.

Prokrastination bezeichnet das Verhalten, als notwendig aber unangenehm empfundene Arbeiten immer wieder aufzuschieben.

Wieso heißt deine Arbeit »Fifty-Five Things«?

Das Thema »Hochleistungsgesellschaft« war etwas, das mich im Laufe meines Studiums mehr und mehr fasziniert hatte – und frustriert zugleich. Leistungsimperativ und Perfektionswahn schienen so allgegenwärtige Bestandteile des Kreativberufs zu sein, dass ich mich wunderte, wie es unter einem derartigen – oftmals selbst auferlegten – Druck denn überhaupt noch möglich sei, der eigenen Kreativität freien Lauf zu lassen. Ich entschied mich, diese Fragen zum Thema meiner Abschlussarbeit zu machen und dabei zu hinterfragen, was Muße und Entspannung in einem solchen Hochleistungsumfeld für Kreativität und Produktivität bedeuteten.

In diesem Zuge untersuchte ich auch das Phänomen der »umgekehrten Prokrastination«, eine sich häufende Erscheinung einer Gesellschaft, die ihre Arbeit stets priorisiert und die Muße hinten anstellt.

Im praktischen Teil meiner Arbeit griff ich genau diese Problematik auf – und gestaltete ein zweites Buch das fünfundfünfzig Dinge vorschlägt, die man tun sollte, bevor man stirbt – »Fifty-Five Things«.

Was genau hat Dich an dem Thema interessiert und auf welche Aspekte beziehst Du Dich besonders mit Deiner Abschlussarbeit?

In einer Generation, in der Workaholism und Selbstausbeutung zu den zentralen Charaktereigenschaften des modernen Arbeitnehmers gehören, gewinnt das »Privileg Arbeit« eine völlig neue Bedeutung. »Laboro ergo sum« – diese gänzliche Identifikation mit dem eigenen Beruf, die im Kreativbereich vorherrscht, und die Selbstaufopferung, die damit oftmals Hand in Hand geht, waren Dinge, mit denen ich mich intensiver auseinandersetzen wollte. Wann wird aus Ehrgeiz Ehrsucht, wann erlangt die Bedeutsamkeit der Arbeit eine zu große Rolle in unserem Leben, wo liegt die Grenze zwischen gesundem Arbeitseifer und krankhafter Arbeitswut? Ich wollte mir diese Fragen selbst beantworten, und gleichzeitig versuchen herauszufinden, wieso Muße und »Nichtstun« schon seit jeher einen sündhaften Beigeschmack haben, und in unserer Hochleistungsgesellschaft so verpönt sind, wo es doch Ruhe und Entspannung dringend benötigt, um die eigenen Batterien wieder aufzuladen und der Kreativität neuen Schwung zu geben.

In welcher Form greifst Du das Thema gestalterisch auf bzw. wie setzt Du es visuell um in Deiner Arbeit? Welche Elemente, Farben oder Regeln spielen eine besondere Rolle und warum?

Die wichtigste Regel war wohl: keine klaren Regeln. Als meine Thesis noch lediglich eine Vorstellung war, hatte ich große Pläne dafür: klar strukturierte Ausführungen, doppelt so viele Letterings, perfekt gestaltet von vorne bis hinten. Ein irrwitziges Paradoxon, wollte ich mich doch mit Loslassen und freier Gestaltung befassen.

So kam es auch, dass ich erst mit der intensiven Auseinandersetzung mit der Thematik während dieser Zeit mit meinem Projekt mitwuchs – der gesamte Prozess verlief ein wenig nach dem Motto »go with the flow«. Manchmal verlangte es nach einer völligen Loslösung von strikten Normen und Vorgaben; ich nahm die Typographie nicht mehr gar so ernst, begann frei damit zu spielen und zu experimentieren. Dann wiederum hatte ich das Gefühl, dass ein wenig Ruhe und Struktur als Pendant nicht schaden würden – so entstand ein Basis-Grid, und der Großteil meiner Arbeit ist in schwarz und weiß gehalten, weil ich mich mit diesen Farben generell sehr wohl fühle.

Die Letterings waren die ultimative Spielwiese: ich konnte mich an Stilen und Formen probieren, auf die ich sonst vielleicht gar nicht erst gekommen wäre. Es gibt heute wohl ein paar Letterings, die ich lieber gewonnen habe als andere, doch darum ging es ja im Grunde: die Dinge so zu machen, wie ich es zur Zeit der Entstehung meiner Arbeit für richtig empfand, ohne Reue, und einfach dem Fluss zu folgen, ohne Skepsis.

Was verbirgt sich hinter dem Wort Prokrastination und welche Ursachen gibt es? Welche positiven Seiten hat Prokrastination?

Ursprünglich aus dem Lateinischen stammend, versteht man unter Prokrastination heutzutage das kontinuierliche Aufschieben von Aufgaben, die als unangenehm empfunden werden, und deren Erledigung man damit immer wieder hinausverzögert. Was früher mehr als schlechte Angewohnheit verstanden wurde, hat sich im Laufe der Jahre zu einer ausgewachsenen Verhaltensstörung entwickelt die besonders häufig bei Studierenden zu beobachten ist.

Mittlerweile haben sich allerdings neue Nebenerscheinungen der allgemein bekannten Prokrastination etabliert: die bereits erwähnte »umgekehrte Prokrastination«, die das Hinauszögern entspannender Freizeitaktivitäten der Arbeit zuliebe verursacht, oder auch die »aktive Prokrastination«, bei der aus Überzeugung heraus prokrastiniert wird, um unter Druck besser arbeiten zu können. Man kann das Thema also nicht rein in schwarz und weiß unterteilen.

Wie ist der Zusammenhang zwischen Perfektionismus und Prokrastination?

Perfektionswahn und Kontrollsucht speisen sich aus Versagensängsten, Leistungskrisen, dem Gefühl, den anspruchsvollen Anforderungen der Beschleunigungsgesellschaft nicht zu entsprechen. Kontrolle vermittelt Sicherheit und verspricht Fehlerlosigkeit. Der Prokrastinierende verzögert in diesem Fall all jene Tätigkeiten, die ein zu großes Risiko darstellen und sich somit seiner Kontrolle entziehen. Er vermeidet jegliches Scheitern, indem er sich lieber anderen Dingen zuwendet.

Das Abhandenkommen dieser förderlichen Fehlerkultur ist es allerdings, das unser kreatives Schaffen lähmt und an der eigenen Weiterentwicklung hindert. Fehler zu akzeptieren und aus ihnen zu lernen ist schließlich eine Form des Loslassens, bei der es darum geht, den Dingen seinen Lauf zu lassen und neugierig zu sein, was durch »Trial and Error« entstehen könnte. Wir müssen wieder lernen, loszulassen, um Raum für Ideen und Genie schaffen zu können.

Wann ist Prokrastination etwas völlig normales und ab welchem Punkt kann man von einer Krankheit sprechen? Wann macht es Sinn sich professionelle Hilfe zu holen?

Bis zu einem gewissen Grad kann Prokrastination ja als Warnzeichen verstanden werden – eine Aufgabe, die als so unangenehm und leidig empfunden wird, dass sie stets letzte Priorität erlangt, kann nicht hundertprozentig etwas sein, hinter dem wir voll und ganz stehen, und dem wir bereit sind unser gesamtes Herzblut entgegenzubringen. Wer besagte Aufgabe an diesem Punkt reflektieren und hinterfragen kann, ist möglicherweise in der Lage, die Perspektive soweit zu verändern, dass sich aus dem scheinbar unüberwindbaren Hindernis eine anspruchsvolle Aufgabenstellung entwickelt, der man sich gespannt stellt.

Über diesen Punkt hinaus kann Prokrastination allerdings in einen gefährlichen Teufelskreis abdriften: auf das chronische Aufschieben folgt ein zermürbendes Schamgefühl und quälende Angst, woraufhin der oftmals falsche Glaube entsteht, diese durch mehr Selbstdisziplin und Kontrolle unterdrücken zu können – und dieser selbst auferlegte Druck führt allzu häufig zur erneuten Prokrastination. Ohne professionelle Hilfe wird es an diesem Punkt äußerst schwierig, aus der erlernten Gewohnheit wieder auszubrechen und einen gesunden Weg zu finden, um generell mit Hindernissen und Problemen umzugehen.

Hat sich durch die Auseinandersetzung mit dem Thema für Dich nachhaltig etwas verändert? Gelingt es Dir deine Erkenntnisse im Alltag umzusetzen?

Ich habe das Gefühl, dass ich mittlerweile mit mehr Gelassenheit an die Arbeit gehe. Ich arbeite nach wie vor im Grafikdesignbereich, und ich habe es hin und wieder mit stressigen, anspruchsvollen Phasen zu tun, in denen ich dazu neige, das Projekt als höchste Priorität einzustufen, und private Pläne oder Freizeit zu vernachlässigen. Doch dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass es neben Leistungsimperativ und Kontrollsucht wichtigere Momente im Leben gibt, die kostbar und einmalig sind.

Loslassen bedeutet, dass Kontrolle abgegeben wird, und dass damit ein Risiko eingegangen wird. Ich brauchte etwas Zeit, um mich darauf einzulassen, doch es hat sich als unglaublich bereichernd erwiesen. Das Wagnis, etwas völlig Neues auszuprobieren, schafft wieder mehr Platz für das eigene Bauchgefühl und die Intuition, aus der sich oft die spannendsten Ideen entwickeln können.

Würde es Sinn ergeben das Thema im Studium oder bereits in der Schule zu behandeln? Falls ja, in welchem Rahmen?

Definitiv. An erster Stelle steht schon einmal das schlechte Gewissen einer ganzen Generation. Ein ausgeprägter Wille zur Perfektion und zur Überarbeitung ist in der heutigen Zeit ein anerkannter, hoch geschätzter Charakterzug geworden; wer sich zu viel Muße gönnt, muss sich Gewissensbissen stellen. Studenten – und zum Teil bereits auch Schüler – haben hier mit einem Identifikationskonflikt zu kämpfen: das Studium bzw. die Schule ist weder gänzlich Arbeit, noch ganz Freizeit. Dies wirft bereits unzählige Fragen auf: bin ich zu passiv? Vergeude ich meine Zeit? Müsste ich nicht mehr machen? Ist das denn genug? Diese Gedanken erzeugen Angst, die wiederum zu einer Dauerblockade führt, die das freie, kreative Arbeiten und Denken komplett lähmen kann.

Ich halte es also für durchaus sinnvoll, das Thema Prokrastination nicht totzuschweigen, oder gar herunterzuspielen, sondern es offen zu hinterfragen, und die Bedeutung von Entspannung und Ruhe im Zusammenhang mit Kreativität von Anfang an richtig zu erlernen.

Ist die Thematik für bestimmte Alters- und Berufsgruppen oder Kulturen besonders relevant? Wer ist betroffen, wer bleibt verschont und was sind die Ursachen dafür?

Ich halte Branchen, in denen ein Problem nicht mit einem linearen Lösungsweg behoben werden kann, für besonders anfällig für chronische Prokrastination. Am Beispiel Kreativbranche kann man das leicht erkennen: die Gestaltung einer Marke zum Beispiel, stellt einen komplexen Prozess dar, bei der viele ungreifbare Aspekte wie Idee, Flow, Intuition etc. mitspielen. Eine derart emotionale Herangehensweise löst damit auch größeren Respekt bzw. Angst vor dem schier unbezwingbaren Berg an Arbeit auf, der auf einen zukommt.

Verallgemeinern kann man es natürlich nie, doch in Berufen, die eine gewisse Routine innehaben, in der die Vorstellung des unmittelbar bevorstehenden Ziels und des Weges dorthin relativ klar ist, geht es leichter von der Hand, diesen Weg auch durchzuziehen. »Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen« heißt es, woran es schwer fällt zu glauben, wenn kaum einschätzbar ist, wie lang oder anspruchsvoll diese Arbeit wird – um diesem Risiko zu entkommen, ist die Prokrastination nicht weit.

Bist Du auf vorhandenes Material mit konkretem Designbezug gestoßen? Kannst Du Bücher oder Internetseiten empfehlen?

Frank Berzbachs »Kreativität aushalten: Psychologie für Designer« war während der Entstehungszeit meiner Arbeit eine Art Bibel für mich. Er bezieht sich nicht lediglich auf das Thema Prokrastination, sondern greift dabei zahlreiche zusammenhängende Aspekte wie die Unfähigkeit zur Muße, psychologische Auswirkungen der Beschleunigungsgesellschaft und vieles mehr auf. Außerdem: ein sehr sorgfältig und elegant gestaltetes Büchlein.

Weniger durchgestaltet, dafür inhaltlich äußerst aufschlussreich: Svenja Flaßpöhlers »Wir Genussarbeiter«, Byung-Chul Hans »Müdigkeitsgesellschaft« oder Ulrich Schnabels »Muße«.

Was war die wichtigste Erkenntnis die Du gewonnen hast?

Dem Verzicht die uneingeschränkte Macht über unser Dasein in Arbeits- und Freizeit zu überlassen, endet über kurz oder lang in einer physischen, sowie psychischen Ohnmacht, aus der es enorm schwierig ist, wieder herauszufinden. Dem Genuss und der Müßigkeit stets zu frönen macht aus uns allerdings ebenso eine rein genusssüchtige Gesellschaft, die zu keinerlei Schöpfung fähig ist.

Es benötigt also einer gut ausgewogenen Balance, für die weder ich, noch irgendjemand sonst die perfekte Gebrauchsanweisung liefern kann, sondern die ein jeder für sich individuell zusammenstellen muss. Eine Nachtschicht macht noch kein Burnout, und ein Tag der reinen Muße keinen Faulpelz, doch es braucht gleichermaßen Leidenschaft und Herzblut, für das, was man tut, wie es die Fähigkeit zum Loslassen und süßen Nichtstun geben muss.

Wer loslassen möchte, muss schlussendlich lernen, zu vertrauen: vertrauen in das Unerwartete, in das Unbekannte, in das Unterbewusste. Bereit für Neues, für Fremdes, für große Ideen und kleine Freuden.

Textauszüge

Die Arbeit wird zur Quelle der größtmöglichen Befriedigung unseres Daseins. Wir erfahren uns selbst als energiegeladen, getrieben, als Wunderkinder der Moderne. Freunde, Familie, Bekannte respektieren uns für unser Durchhaltevermögen und unseren Ehrgeiz. Wir baden uns förmlich in der Anerkennung, genießen den Respekt, der uns für unsere harte Arbeit entgegengebracht wird und den wir uns schließlich mit aller Kraft erkämpft haben.

Kontrollsucht ist eine maßlose Droge.

Die Bereitschaft, sich unter Wert zu verkaufen und unverhältnismäßige Anforderungen zu ertragen, wird dementsprechend größer, je stärker die Existenzangst ist.

Eine Menschheit ohne angemessener Balance zwischen Niederlage und Erfolg, zwischen Chaos und Kontrolle, macht schlussendlich jeglichen Fortschritt zu einer utopischen Vorstellung.

In zahlreichen Berufsfeldern – insbesondere dort, wo Leistung aus nicht messbaren Faktoren entsteht wie beispielsweise Kreativberufe – hat sich eine absurde Erwartungshaltung gegenüber Mehrarbeit, Bereitwilligkeit zu Überstunden und Aufopferungswille im Beruf kultiviert.

Es ist eine äußerst interessante Beobachtung, wie eng die Muße, das Loslassen, der Genuss mit der Askese in Zusammenhang steht. Das eine könnte ohne das andere gar nicht existieren; der Mensch wäre nicht in der Lage zu genießen, wenn ihm das Fasten nicht bekannt wäre.

Weil dem Genuss meist kein zielorientiertes Schaffen eines Werkes zu Grunde liegt, sondern er sich eher durch Vergänglichkeit und das Sein im Augenblick auszeichnet, verliert er in den Augen der Leistungsgesellschaft seine Sinnhaftigkeit.

Mit dem Loslassen gehen wir gewissermaßen ein Risiko ein, wir wagen uns damit in fremde Gefilde, die wir nicht kennen und in denen wir uns unsicher, möglicherweise unwohl fühlen.

Abschlussarbeiten über Prokrastination – Marie Zieger

Marie Zieger studierte Informationsdesign an der FH Joanneum in Graz. In der Thesis ihrer Bachelorarbeit »Fifty-Five Things. Perfektion und Prokrastination in der Leistungsgesellschaft« setzte sie sich mit der modernen Hochleistungsgesellschaft auseinander und entwickelte als Gegenstück zu Perfektionswahn, Kontrollsucht und Leistungsimperativ das Buch »Fünfundfünfzig Dinge, die man tun sollte, bevor man stirbt«. Wir befragten sie zum Thema Prokrastination.

Prokrastination bezeichnet das Verhalten, als notwendig aber unangenehm empfundene Arbeiten immer wieder aufzuschieben.

Wieso heißt deine Arbeit »Fifty-Five Things«?

Das Thema »Hochleistungsgesellschaft« war etwas, das mich im Laufe meines Studiums mehr und mehr fasziniert hatte – und frustriert zugleich. Leistungsimperativ und Perfektionswahn schienen so allgegenwärtige Bestandteile des Kreativberufs zu sein, dass ich mich wunderte, wie es unter einem derartigen – oftmals selbst auferlegten – Druck denn überhaupt noch möglich sei, der eigenen Kreativität freien Lauf zu lassen. Ich entschied mich, diese Fragen zum Thema meiner Abschlussarbeit zu machen und dabei zu hinterfragen, was Muße und Entspannung in einem solchen Hochleistungsumfeld für Kreativität und Produktivität bedeuteten.

In diesem Zuge untersuchte ich auch das Phänomen der »umgekehrten Prokrastination«, eine sich häufende Erscheinung einer Gesellschaft, die ihre Arbeit stets priorisiert und die Muße hinten anstellt.

Im praktischen Teil meiner Arbeit griff ich genau diese Problematik auf – und gestaltete ein zweites Buch das fünfundfünfzig Dinge vorschlägt, die man tun sollte, bevor man stirbt – »Fifty-Five Things«.

Was genau hat Dich an dem Thema interessiert und auf welche Aspekte beziehst Du Dich besonders mit Deiner Abschlussarbeit?

In einer Generation, in der Workaholism und Selbstausbeutung zu den zentralen Charaktereigenschaften des modernen Arbeitnehmers gehören, gewinnt das »Privileg Arbeit« eine völlig neue Bedeutung. »Laboro ergo sum« – diese gänzliche Identifikation mit dem eigenen Beruf, die im Kreativbereich vorherrscht, und die Selbstaufopferung, die damit oftmals Hand in Hand geht, waren Dinge, mit denen ich mich intensiver auseinandersetzen wollte. Wann wird aus Ehrgeiz Ehrsucht, wann erlangt die Bedeutsamkeit der Arbeit eine zu große Rolle in unserem Leben, wo liegt die Grenze zwischen gesundem Arbeitseifer und krankhafter Arbeitswut? Ich wollte mir diese Fragen selbst beantworten, und gleichzeitig versuchen herauszufinden, wieso Muße und »Nichtstun« schon seit jeher einen sündhaften Beigeschmack haben, und in unserer Hochleistungsgesellschaft so verpönt sind, wo es doch Ruhe und Entspannung dringend benötigt, um die eigenen Batterien wieder aufzuladen und der Kreativität neuen Schwung zu geben.

In welcher Form greifst Du das Thema gestalterisch auf bzw. wie setzt Du es visuell um in Deiner Arbeit? Welche Elemente, Farben oder Regeln spielen eine besondere Rolle und warum?

Die wichtigste Regel war wohl: keine klaren Regeln. Als meine Thesis noch lediglich eine Vorstellung war, hatte ich große Pläne dafür: klar strukturierte Ausführungen, doppelt so viele Letterings, perfekt gestaltet von vorne bis hinten. Ein irrwitziges Paradoxon, wollte ich mich doch mit Loslassen und freier Gestaltung befassen.

So kam es auch, dass ich erst mit der intensiven Auseinandersetzung mit der Thematik während dieser Zeit mit meinem Projekt mitwuchs – der gesamte Prozess verlief ein wenig nach dem Motto »go with the flow«. Manchmal verlangte es nach einer völligen Loslösung von strikten Normen und Vorgaben; ich nahm die Typographie nicht mehr gar so ernst, begann frei damit zu spielen und zu experimentieren. Dann wiederum hatte ich das Gefühl, dass ein wenig Ruhe und Struktur als Pendant nicht schaden würden – so entstand ein Basis-Grid, und der Großteil meiner Arbeit ist in schwarz und weiß gehalten, weil ich mich mit diesen Farben generell sehr wohl fühle.

Die Letterings waren die ultimative Spielwiese: ich konnte mich an Stilen und Formen probieren, auf die ich sonst vielleicht gar nicht erst gekommen wäre. Es gibt heute wohl ein paar Letterings, die ich lieber gewonnen habe als andere, doch darum ging es ja im Grunde: die Dinge so zu machen, wie ich es zur Zeit der Entstehung meiner Arbeit für richtig empfand, ohne Reue, und einfach dem Fluss zu folgen, ohne Skepsis.

Was verbirgt sich hinter dem Wort Prokrastination und welche Ursachen gibt es? Welche positiven Seiten hat Prokrastination?

Ursprünglich aus dem Lateinischen stammend, versteht man unter Prokrastination heutzutage das kontinuierliche Aufschieben von Aufgaben, die als unangenehm empfunden werden, und deren Erledigung man damit immer wieder hinausverzögert. Was früher mehr als schlechte Angewohnheit verstanden wurde, hat sich im Laufe der Jahre zu einer ausgewachsenen Verhaltensstörung entwickelt die besonders häufig bei Studierenden zu beobachten ist.

Mittlerweile haben sich allerdings neue Nebenerscheinungen der allgemein bekannten Prokrastination etabliert: die bereits erwähnte »umgekehrte Prokrastination«, die das Hinauszögern entspannender Freizeitaktivitäten der Arbeit zuliebe verursacht, oder auch die »aktive Prokrastination«, bei der aus Überzeugung heraus prokrastiniert wird, um unter Druck besser arbeiten zu können. Man kann das Thema also nicht rein in schwarz und weiß unterteilen.

Wie ist der Zusammenhang zwischen Perfektionismus und Prokrastination?

Perfektionswahn und Kontrollsucht speisen sich aus Versagensängsten, Leistungskrisen, dem Gefühl, den anspruchsvollen Anforderungen der Beschleunigungsgesellschaft nicht zu entsprechen. Kontrolle vermittelt Sicherheit und verspricht Fehlerlosigkeit. Der Prokrastinierende verzögert in diesem Fall all jene Tätigkeiten, die ein zu großes Risiko darstellen und sich somit seiner Kontrolle entziehen. Er vermeidet jegliches Scheitern, indem er sich lieber anderen Dingen zuwendet.

Das Abhandenkommen dieser förderlichen Fehlerkultur ist es allerdings, das unser kreatives Schaffen lähmt und an der eigenen Weiterentwicklung hindert. Fehler zu akzeptieren und aus ihnen zu lernen ist schließlich eine Form des Loslassens, bei der es darum geht, den Dingen seinen Lauf zu lassen und neugierig zu sein, was durch »Trial and Error« entstehen könnte. Wir müssen wieder lernen, loszulassen, um Raum für Ideen und Genie schaffen zu können.

Wann ist Prokrastination etwas völlig normales und ab welchem Punkt kann man von einer Krankheit sprechen? Wann macht es Sinn sich professionelle Hilfe zu holen?

Bis zu einem gewissen Grad kann Prokrastination ja als Warnzeichen verstanden werden – eine Aufgabe, die als so unangenehm und leidig empfunden wird, dass sie stets letzte Priorität erlangt, kann nicht hundertprozentig etwas sein, hinter dem wir voll und ganz stehen, und dem wir bereit sind unser gesamtes Herzblut entgegenzubringen. Wer besagte Aufgabe an diesem Punkt reflektieren und hinterfragen kann, ist möglicherweise in der Lage, die Perspektive soweit zu verändern, dass sich aus dem scheinbar unüberwindbaren Hindernis eine anspruchsvolle Aufgabenstellung entwickelt, der man sich gespannt stellt.

Über diesen Punkt hinaus kann Prokrastination allerdings in einen gefährlichen Teufelskreis abdriften: auf das chronische Aufschieben folgt ein zermürbendes Schamgefühl und quälende Angst, woraufhin der oftmals falsche Glaube entsteht, diese durch mehr Selbstdisziplin und Kontrolle unterdrücken zu können – und dieser selbst auferlegte Druck führt allzu häufig zur erneuten Prokrastination. Ohne professionelle Hilfe wird es an diesem Punkt äußerst schwierig, aus der erlernten Gewohnheit wieder auszubrechen und einen gesunden Weg zu finden, um generell mit Hindernissen und Problemen umzugehen.

Hat sich durch die Auseinandersetzung mit dem Thema für Dich nachhaltig etwas verändert? Gelingt es Dir deine Erkenntnisse im Alltag umzusetzen?

Ich habe das Gefühl, dass ich mittlerweile mit mehr Gelassenheit an die Arbeit gehe. Ich arbeite nach wie vor im Grafikdesignbereich, und ich habe es hin und wieder mit stressigen, anspruchsvollen Phasen zu tun, in denen ich dazu neige, das Projekt als höchste Priorität einzustufen, und private Pläne oder Freizeit zu vernachlässigen. Doch dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass es neben Leistungsimperativ und Kontrollsucht wichtigere Momente im Leben gibt, die kostbar und einmalig sind.

Loslassen bedeutet, dass Kontrolle abgegeben wird, und dass damit ein Risiko eingegangen wird. Ich brauchte etwas Zeit, um mich darauf einzulassen, doch es hat sich als unglaublich bereichernd erwiesen. Das Wagnis, etwas völlig Neues auszuprobieren, schafft wieder mehr Platz für das eigene Bauchgefühl und die Intuition, aus der sich oft die spannendsten Ideen entwickeln können.

Würde es Sinn ergeben das Thema im Studium oder bereits in der Schule zu behandeln? Falls ja, in welchem Rahmen?

Definitiv. An erster Stelle steht schon einmal das schlechte Gewissen einer ganzen Generation. Ein ausgeprägter Wille zur Perfektion und zur Überarbeitung ist in der heutigen Zeit ein anerkannter, hoch geschätzter Charakterzug geworden; wer sich zu viel Muße gönnt, muss sich Gewissensbissen stellen. Studenten – und zum Teil bereits auch Schüler – haben hier mit einem Identifikationskonflikt zu kämpfen: das Studium bzw. die Schule ist weder gänzlich Arbeit, noch ganz Freizeit. Dies wirft bereits unzählige Fragen auf: bin ich zu passiv? Vergeude ich meine Zeit? Müsste ich nicht mehr machen? Ist das denn genug? Diese Gedanken erzeugen Angst, die wiederum zu einer Dauerblockade führt, die das freie, kreative Arbeiten und Denken komplett lähmen kann.

Ich halte es also für durchaus sinnvoll, das Thema Prokrastination nicht totzuschweigen, oder gar herunterzuspielen, sondern es offen zu hinterfragen, und die Bedeutung von Entspannung und Ruhe im Zusammenhang mit Kreativität von Anfang an richtig zu erlernen.

Ist die Thematik für bestimmte Alters- und Berufsgruppen oder Kulturen besonders relevant? Wer ist betroffen, wer bleibt verschont und was sind die Ursachen dafür?

Ich halte Branchen, in denen ein Problem nicht mit einem linearen Lösungsweg behoben werden kann, für besonders anfällig für chronische Prokrastination. Am Beispiel Kreativbranche kann man das leicht erkennen: die Gestaltung einer Marke zum Beispiel, stellt einen komplexen Prozess dar, bei der viele ungreifbare Aspekte wie Idee, Flow, Intuition etc. mitspielen. Eine derart emotionale Herangehensweise löst damit auch größeren Respekt bzw. Angst vor dem schier unbezwingbaren Berg an Arbeit auf, der auf einen zukommt.

Verallgemeinern kann man es natürlich nie, doch in Berufen, die eine gewisse Routine innehaben, in der die Vorstellung des unmittelbar bevorstehenden Ziels und des Weges dorthin relativ klar ist, geht es leichter von der Hand, diesen Weg auch durchzuziehen. »Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen« heißt es, woran es schwer fällt zu glauben, wenn kaum einschätzbar ist, wie lang oder anspruchsvoll diese Arbeit wird – um diesem Risiko zu entkommen, ist die Prokrastination nicht weit.

Bist Du auf vorhandenes Material mit konkretem Designbezug gestoßen? Kannst Du Bücher oder Internetseiten empfehlen?

Frank Berzbachs »Kreativität aushalten: Psychologie für Designer« war während der Entstehungszeit meiner Arbeit eine Art Bibel für mich. Er bezieht sich nicht lediglich auf das Thema Prokrastination, sondern greift dabei zahlreiche zusammenhängende Aspekte wie die Unfähigkeit zur Muße, psychologische Auswirkungen der Beschleunigungsgesellschaft und vieles mehr auf. Außerdem: ein sehr sorgfältig und elegant gestaltetes Büchlein.

Weniger durchgestaltet, dafür inhaltlich äußerst aufschlussreich: Svenja Flaßpöhlers »Wir Genussarbeiter«, Byung-Chul Hans »Müdigkeitsgesellschaft« oder Ulrich Schnabels »Muße«.

Was war die wichtigste Erkenntnis die Du gewonnen hast?

Dem Verzicht die uneingeschränkte Macht über unser Dasein in Arbeits- und Freizeit zu überlassen, endet über kurz oder lang in einer physischen, sowie psychischen Ohnmacht, aus der es enorm schwierig ist, wieder herauszufinden. Dem Genuss und der Müßigkeit stets zu frönen macht aus uns allerdings ebenso eine rein genusssüchtige Gesellschaft, die zu keinerlei Schöpfung fähig ist.

Es benötigt also einer gut ausgewogenen Balance, für die weder ich, noch irgendjemand sonst die perfekte Gebrauchsanweisung liefern kann, sondern die ein jeder für sich individuell zusammenstellen muss. Eine Nachtschicht macht noch kein Burnout, und ein Tag der reinen Muße keinen Faulpelz, doch es braucht gleichermaßen Leidenschaft und Herzblut, für das, was man tut, wie es die Fähigkeit zum Loslassen und süßen Nichtstun geben muss.

Wer loslassen möchte, muss schlussendlich lernen, zu vertrauen: vertrauen in das Unerwartete, in das Unbekannte, in das Unterbewusste. Bereit für Neues, für Fremdes, für große Ideen und kleine Freuden.

Textauszüge

Die Arbeit wird zur Quelle der größtmöglichen Befriedigung unseres Daseins. Wir erfahren uns selbst als energiegeladen, getrieben, als Wunderkinder der Moderne. Freunde, Familie, Bekannte respektieren uns für unser Durchhaltevermögen und unseren Ehrgeiz. Wir baden uns förmlich in der Anerkennung, genießen den Respekt, der uns für unsere harte Arbeit entgegengebracht wird und den wir uns schließlich mit aller Kraft erkämpft haben.

Kontrollsucht ist eine maßlose Droge.

Die Bereitschaft, sich unter Wert zu verkaufen und unverhältnismäßige Anforderungen zu ertragen, wird dementsprechend größer, je stärker die Existenzangst ist.

Eine Menschheit ohne angemessener Balance zwischen Niederlage und Erfolg, zwischen Chaos und Kontrolle, macht schlussendlich jeglichen Fortschritt zu einer utopischen Vorstellung.

In zahlreichen Berufsfeldern – insbesondere dort, wo Leistung aus nicht messbaren Faktoren entsteht wie beispielsweise Kreativberufe – hat sich eine absurde Erwartungshaltung gegenüber Mehrarbeit, Bereitwilligkeit zu Überstunden und Aufopferungswille im Beruf kultiviert.

Es ist eine äußerst interessante Beobachtung, wie eng die Muße, das Loslassen, der Genuss mit der Askese in Zusammenhang steht. Das eine könnte ohne das andere gar nicht existieren; der Mensch wäre nicht in der Lage zu genießen, wenn ihm das Fasten nicht bekannt wäre.

Weil dem Genuss meist kein zielorientiertes Schaffen eines Werkes zu Grunde liegt, sondern er sich eher durch Vergänglichkeit und das Sein im Augenblick auszeichnet, verliert er in den Augen der Leistungsgesellschaft seine Sinnhaftigkeit.

Mit dem Loslassen gehen wir gewissermaßen ein Risiko ein, wir wagen uns damit in fremde Gefilde, die wir nicht kennen und in denen wir uns unsicher, möglicherweise unwohl fühlen.

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