Wer kann eine pauschale Aussage darüber treffen, welche Funktionen Serifen beim Lesen haben? Sogar in den zwei interessantesten Büchern über Leserlichkeit von Schrift, die in den letzten Jahren erschienen sind, „Wie man’s liest“1 von Gerard Unger und „Reading Letters“2 von Sofie Beier, konnte ich hierauf keine eindeutige Antwort finden. Die Umstände, worunter wir lesen, sind zu verschieden. Nachts lesen wir beispielsweise große hell leuchtende Wegweiser, tagsüber die Zeitung, etwas grob gedruckt oder am spiegelnden iPad und abends ein Roman bei Wohnzimmerbeleuchtung, vielleicht sogar bei Kerzenschein? Leseabstand, Schriftgröße, Beleuchtung, Schriftqualität variieren stark. Alle beeinflussen die Leserlichkeit3 eines Textes. Die Norm DIN 1450 –über Leserlichkeit von Schriften4 nannte bisher 35 Einflüsse. Bei der Erarbeitung der neuen, stark verbesserten Fassung habe ich zusammen mit Prof. Adler, Ivo Gabrovitsch (FontShop), Ralf Herrmann (Typografie.Info), Otmar Hoefer (Linotype), Peter Karow (ehem. URW), Prof. Indra Kupferschmid, sowie Experten auf dem Gebiet der Optik, Lichttechnik und Sehbehinderungen diese Aufstellung überprüft. Die im Frühjahr 2013 erscheinende neue Fassung nennt 44 Einflüsse. Kein Wunder also, dass es schwierig ist, die Funktionalität von Serifen zu werten, zumal es mehrere hundert von Textschriften mit einer entsprechenden Vielfalt von Serifenformen gibt. Es wird also nicht einfach sein, eine Aussage über den Sinn von Serifen zu treffen, in diesem Artikel werde ich es aber trotzdem versuchen.
Lese ich ein Buch, dann habe ich meistens die Zeit Lesebedingungen wie Leseabstand, Umgebungslicht und Leselicht optimal für mich abzustimmen. Die Lesezeit kann ich meistens verlängern, bis ich mir sicher bin das ich wirklich alles gelesen und verstanden habe. Im Bereich der gedruckte Medien, wo der Lesetext, der kontinuierlich gelesen wird, dominiert, gilt die Renaissance Antiqua zwar als leserlichste Schriftart, ansonsten ist es aber so, dass, wenn wir eine Schrift als „normal“ wahrnehmen, wir diese ebenfalls gut lesen können. Für die Schriftauswahl bedeutet das: Keine exotischen Formen, nicht zu mager, zu fett, zu schmal oder zu breit. Die erste Reihe der hier abgebildete Schriften erfüllt alle diese Kriterien. Bin ich sehbehindert, dann hilft mir zwar eine Leselupe, aber je schlechter die Lesebedingungen – inklusive der eigenen –, um so schwieriger wird es, die Schriften der unteren Reihe zu lesen. Sollte das Papier zu sehr glänzen, dann kann ich es zwar so lange drehen, bis ich nicht mehr geblendet werde und ich auch eine klassizistische Antiqua mit sehr dünnen Haarstrichen wie z.B. die Bauer Bodoni noch lesen kann, komfortabel ist das aber nicht. Normalerweise lesen wir Bücher bei einem Leseabstand von 40 cm. Schrift in einer Größe von 12 Punkt können wir meistens gut lesen, 9 Punkt geht auch noch, aber für 8 Punkt und kleiner sind kräftige Schriften wie u.A. die serifenbetonte Antiqua mit etwas robusteren Serifen und Haarstriche besser leserlich.
Wenn ich nachts Auto fahre, was sieht dann alles anders aus? Der Leseabstand variiert während ich lese. Das Umgebungslicht ist gegeben – ist es stockdunkel, dann werden große helle oder sogar weiße Schilder mich anfänglich blenden und ihre schwarze Schrift wird vom Hintergrund überstrahlt. Autobahnwegweiser sind deswegen blau oder grün mit heller Schrift – die aber der Hintergrund überstrahlt. Die Schriftzeichen nehme ich also mehr oder weniger unscharf wahr. Die Wegweiser flitzen an mir vorbei, meine Lesezeit ist also stark begrenzt. Bei Nebel erkenne ich ein Wegweiser als solches erst später und bei Regen wird die Erkennbarkeit der Schriftzeichen weiter eingeschränkt. Fällt mir das Lesen zu schwer, dann muss ich warten, bis das nächste Schild in Sichtweite kommt. Die Lesezeit lässt sich nur dann verlängern, wenn wir die Schilder bereits aus größtmöglicher Entfernung lesen können. Schriftgrößen von 30 cm (± 900 Punkt) sind auf Wegweiser zwar normal, aber auf einem Leseabstand von 60 m entspricht das in etwa nur 6 Punkt bei einem Leseabstand von 40 cm. Anders gesagt: Die Schriften auf den Autobahnschilder sind zwar riesig, aber auf der Netzhaut abgebildet sind sie meistens kleiner als die Schrift in einem Roman. Als Gestalter muss ich hieraus zunächst lernen, dass das, was auf Papier gilt, nämlich dass schwarze Schrift auf weißem Papier bei gleicher Schriftgröße besser lesbar ist, nachts auf der Autobahn genau umgekehrt ist. Wenn wir hier eine Antiqua einsetzen, dann wurden die Haarstriche wegbrechen und das beeinträchtigt die Erkennbarkeit der Zeichen stark. Es würde uns einfach die Zeit fehlen, sie lesen zu können. Genauso wie beim Kleingedrucktes sind auf Autobahnschilder also Schriften mit kräftigen Haarstrichen vorzuziehen. Stark betonte Serifen wie die der Egyptienne werden jedoch schnell zum Problem, wie wir später in diesem Artikel lesen werden. Groteskschriften bieten sich also förmlich an.
Nicht jedes Leitsystem muss auf das „worst case scenario“ der nachts rasenden Automobilisten ausgelegt sein. Auf Flughäfen, Bahnhöfen und Haltestellen fehlt mir zwar schnell die Zeit, aber als zu Fuß gehender Betrachter kann ich den Leseabstand selbst einigermaßen bestimmen. Bei Leitsystemen für Gebäuden wie Kundenzentren, Büros, Bibliotheken, Schulen, Museen und Theater sowie der Gestaltung von Schau- und Informationstafeln haben wir als Gestalter – eine gute Zusammenarbeit mit Kunden und Architekten vorausgesetzt – schließlich viele Möglichkeiten hinsichtlich Positionierung, Beleuchtung, Material, Farbe und Schriftgrößen die Lesebedingungen zu optimieren. Im Idealfall können Blendung, Unschärfe und zu kleine Schriftgrößen allesamt vermieden werden. Entsprechend größer sind dann die Möglichkeiten durch passende Schriftauswahl eine sowohl funktionale bzw. benutzerfreundliche als auch identitätsstiftende Gestaltung zu realisieren.
Wie werden Schriften unter schlechtere Lesebedingungen wahrgenommen? Blendung, Überstrahlung, Unschärfe und Sehbehinderungen sind zwar keine identischen Effekte, aber wie schlechtere Lesebedingungen die Wahrnehmung von Schriften beeinflusst, lässt sich mittels überzeichneter Unschärfe gut visualisieren. In einem ähnlichen Experiment fand Adrian Frutiger bereits Anfang der 1970er heraus, dass seine Frutiger besser geeignet war für die Leitsysteme der Pariser Flughäfen als seine Univers5,6. Auch Ralf Herrmann optimierte die Gestaltung seiner 2012 erschienenen Wayfinding Sans so lange, bis diese einen vergleichbaren Testverfahren bestand.7 Neu an diesem Experiment ist es, die Antiqua und Egyptienne mit einzubeziehen, und von dieser sowohl solche, die (wie die Frutiger) auf das humanistische / dynamische Formprinzip (Renaissance-Antiqua) als auch welche, die (wie die Univers) auf dem klassizistischen / statischen Formprinzip (klassizstische Antiqua) basieren.8,9
Bei der klassizistische Antiqua fehlen den Schriftzeichen entscheidende Erkennungs- und Unterscheidungsmerkmale, wenn die dünnen Haarstriche wegbrechen. Ihre Leserlichkeit wird deutlich eingeschränkt, die der Renaissance-Antiqua nicht. Sie unterscheidet sich in Punkto Leserlichkeit kaum von der der humanistische Grotesk. Bei Beschriftung im öffentlichen Raum gilt also genauso wie bei den Druckschriften, dass Schriften mit dünnen Haarstrichen sich schneller als ungeeignet erweisen als solche wobei diese kräftiger sind. Normale Antiquaschriften die sich für Lesetexte gut eignen, scheinen also für Leitsysteme (außer Verkehrswegweiser) nicht weniger gut geeignet zu sein als Groteskschriften. Die kräftigere serifenbetonte Antiqua schneidet jedoch insgesamt besser ab die Antiqua.
Die sogenannten modernen oder Neo-Groteskschriften sind weniger gut leserlich. Ihre stark eingeschlossenen Innenformen im a, e und s laufen zu, die Unterscheidbarkeit dieser Schriftzeichen wird besonders eingeschränkt. Die humanistische Grotesk ist dagegen offen gestaltet. Auch unter schlechten Lesebedingungen bleibt sie leserlich; für Wegweiser im öffentlichen Raum ist sie also am besten geeignet.
Hier ist etwas Vorsicht geboten. Die kräftigen Serifen tragen dazu bei, dass die einzelnen Schriftzeichen miteinander verschmelzen und nicht mehr für sich erkennbar sind. Vor allem dann, wenn die Zeichenabstände (Laufweite) kleiner sind. Die weiter laufende Caecilia und die Thesis – The Serif mit ihren etwas dünneren Serifenenden schneiden also besser ab als die Serifa, die enger läuft und kräftige Serifenenden aufweist.
Die Illustrationen zeigen insgesamt, dass es richtig ist, dass die Autoren der anfangs genannten Bücher die Frage nach dem Sinn der Serifen nicht so eindeutig beantwortet haben, wie wir es vielleicht gerne gehabt hätten. Die Grenze zwischen guter und schlechter Leserlichkeit verläuft nicht zwischen „Serifen“ und „keine Serifen“ bzw. zwischen Antiqua und Grotesk. Es sind generell die Schriften, die auf dem humanistischen bzw. dynamischen Formprinzip basieren, die besser abschneiden als solche, die auf dem klassizistischen bzw. statischen Formprinzip basieren. Frappant ist es, dass die letzteren die Schriften sind, welche die Moderne über Jahrzehnte bevorzugt hat. Die Funktionalität der Gestaltung, die die Moderne mit Äußerungen wie „form follows function“ für sich in Anspruch nimmt, trifft also nicht unbedingt auf die von derselben favorisierten Schriften zu. Inzwischen fürchtet die Moderne sogar die funktionelle Überlegenheit der humanistische Groteskschriften, sie könnte sogar eine weltweite „Frutigerisierung“ der Leitsysteme zur Folge haben. Tatsächlich: In jüngster Zeit werden auf den Autobahnwegweisern in den Vereinigten Staaten, Österreich und in die Schweiz die bisherigen konstruierte Neo-Groteskschriften gegen Frutiger-ähnliche humanistische Groteskschriften ausgetauscht. Ein Verschwinden der DIN-Schrift in Deutschland wäre demnach sogar als Kulturverlust zu werten. Ob Kulturverlust oder nicht, einer weltweiten Vereinheitlichung der Schriften wurde die Länder, Orte und der Verkehrssysteme tatsächlich weniger individuell und länderspezifisch erscheinen lassen, und das wäre auch im Sinne der Orientierung nicht richtig.10 Für die Konzipierung von optimal gestaltete Lösungen (egal ob Buch, Website oder Leitsystem) müssen also neben den technisch-funktionalen Geschichtspunkten auch die historische, kulturelle und gestalterische Aspekte sorgfältig abgewogen werden.
Sind sie besonders fein (wie in der Bodoni) oder betont kräftig (wie in einer Egyptienne), dann sind sie nur bedingt geeignet für Anwendungen, wo schlechte Lesebedingungen sich nicht vermeiden lassen. Normale und etwas kräftigere Serifen, die wir in Lesetexten als angenehm und unauffällig empfinden, können aber auch auf Schau- und Informationstafeln und in Leitssystemen für Fußgänger jedoch sehr zu einer leserlichen Gestaltung beitragen. Wie eingangs gesagt, bedarf es hierzu – wie auch bei den Groteskschriften der Moderne – einer optimimalen Gestaltung der Lesebedingungen, aber ist das nicht sowieso einer der Kernaufgaben des Kommunikationsdesigns?
(1) Wie man’s liest, Gerard Unger, Niggli Verlag, Sulgen
(2) Reading Letters – desiging for legibility, Sofie Beier, BIS Publishers, Amsterdam
(3) Leserlichkeit kann beschrieben werden als die Eigenschaft von Schriftzeichen, diese in Zusammenhang erkennen zu können. Der geläufige Begriff Lesbarkeit betrifft nach DIN 1450 die Verständlichkeit eines leserlich gestalteten Textes. Demnach kann ein Text zwar besonders leserlich gestaltet worden sein, gut lesbar ist der Text aber erst dann, wenn der Text darüber hinaus so formuliert worden ist, dass der Leser sie einwandfrei verstehen kann.
(4) DIN 1450, Schriften – Leserlichkeit, Beuth Verlag, Berlin. Die Neufassung erscheint im Frühjahr 2013
(5) Frutiger, eine Typografie, Niggli Verlag, Sulgen
(6) Adrian Frutiger – Schriften. Das Gesamtwerk, Osterer, Stamm, Birkhäuser-Verlag AG, Basel
(7) Typojournal, Wayfinding & Lesbarkeit, Ausgabe 2, Typografie.Info, Weimar
(8) Schriften erkennen: Eine Typologie der Satzschriften, Daniel Sauthoff, Gilmar Wendt, Hans Peter Willberg, Verlag Herrmann Schmidt, Mainz
(9) Buchstaben kommen selten allein, Indra Kupferschmid, Niggli Verlag, Sulgen
(10) Schrift und Identität – Die Gestaltung von Beschilderungen im öffentlichen Verkehr, Andreas Uebele, Indra Kupferschmid, Philipp Schäfer und Ilona Pfeifer, Niggli Verlag, Sulgen
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