»Nicht bummeln!«, ein typischer Satz, der gegenüber Kindern ausgesprochen wird, oft endlos wiederholt. Wer im falschen Tempo unterwegs ist, der bummelt. Aber wer entscheidet überhaupt, welche Geschwindigkeit für die Erledigung von Aufgaben oder das Zurücklegen von Wegen angemessen ist? Da eine der wichtigsten Zeitdiagnosen der Gegenwart die Beschleunigung ist, können wir davon ausgehen: wir sind immer zu langsam. Scheinbar. Das Auto vor uns fährt zu langsam, der Zug ist zu langsam, die Passanten vor uns sind zu langsam und Kinder, behinderte oder alte Menschen sind mehr als zu langsam. Sie stören die, deren Alltag wirkt, als seien sie auf der Flucht. Es war abzusehen, dass die Sprache auf die scheinbare Langsamkeit reagiert und ein moralisch bedrohlicher Begriff erfunden wird – Prokrastination – er klingt wie eine Krankheit oder ein Straftatbestand. Auf jeder Lesung werde ich gefragt, was dagegen zu tun sei. Früher unterschied man fleißige von faulen oder trägen Menschen. »Faulheit ist der Hang zur Ruhe ohne vorhergehende Arbeit.« – noch Immanuel Kant konnte das Problem glasklar formulieren. Heute ist das wahrscheinlich etwas schwieriger. Auch Leistungsträger haben, weil das Tempo inzwischen unmenschlich hoch ist, einen Hang zum Aufschieben oder viel mehr: sie nehmen, was früher wohl einmal ganz normal war, als ein störendes Phänomen wahr. Überhaupt faulenzen zu können, also temporäre Trägheit dem Unerfreulichen vorzuziehen, ist in den Leitmilieus und unter Kreativen heute ein seltenes Phänomen. Die tatsächlich faulen Menschen, die es immer gab und geben wird, unabhängig vom Alter, ignoriere ich hier einmal bewusst. Ich meine die, die gern und leidenschaftlich arbeiten. Und die sollten sich über Prokrastination keine weiteren Gedanken machen, außer eben auf der Metaebene. Wer geht schon gern Unangenehmes als erstes an? Wer schafft es überhaupt, die eigenen Neigungen und Bewertungen einer Aufgabe übergehen zu können? Eine Eigenschaft, die im Buddhismus nicht umsonst erleuchteten Menschen zugesprochen wird, und zwar nur ihnen. Die anderen werden als basale Lebenserfahrung haben, dass jeder sich einmal darüber ärgert, etwas zu spät angegangen zu sein. Oft bleibt das folgenlos und wenn nicht, lernt man aus Fehlern, bekommt Streit mit anderen oder sich selbst. Alles andere scheint mir ein Zeitgeistphänomen zu sein, dem zu große Bedeutung zugesprochen wird. Prokrastination ist ebensowenig eine Störung wie Faulheit, es ist eine der Untugenden, mit denen Menschen zu tun haben und die überwunden werden will. In den Lehren der christlichen Wüstenväter, den ersten Mönchen, besteht ein klares Bewusstsein darüber, dass jedem gewisse Untugenden mitgegeben sind – sie gehören zur Grundausstattung einer aus dem Paradies vertriebenen Seele. Aber durch Reife, Erfahrung, Übung und Einsicht, auch durch Ehrgeiz und Leistungsorientierung gelingt es im Laufe eines bewussten Lebens meist, die Trägheit zu überwinden. Ich halte den alten Begriff der Trägheit für sinnvoller als das neudeutsche Prokrastinieren. Die Freiheiten nehmen mit zunehmendem Alter ab, die Pflichten zu, das Verantwortungsgefühl auch und vor allem die Einsicht, dass das Leben endlich ist. Egal ob wir selbst oder jemand im engen Umfeld ernsthaft erkrankt oder ein Mensch stirbt – es schärft unsere Wahrnehmung dafür, dass weder das Verbrennen noch das Überfüllen unserer Zeit die Lebensqualität erhöhen. »Ich kann, weil ich will, was ich muss.«, schrieb Kant. Die Steuererklärung, das Absolvieren von Prüfungen, die Hausarbeit, etwas Unangenehmes thematisieren – es gibt oft keine Alternative, als die Aufgaben anzugehen. Besser spät, als nie. In der vorher verstreichenden Zeit sammeln wir dafür Mut und Motivation. Ich halte das für keine Störung. Es kann sogar klug sein, weil es für ein Gespür spricht, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Ideen haben eine gewisse Inkubationszeit, sie reifen und arbeiten unbewusst in uns. Wer sich allerdings durch das konsequente Nichterledigen von Aufgaben selbst ins Aus schießt, der scheitert. Auch dazu hat jeder die Freiheit. In gewisser Weise wählte er, etwas nicht zu tun und trägt somit dafür selbst die Verantwortung. Das ist noch kein Grund für Mitleid. Prokrastination ist, abgesehen vom Zeitgeist einer maßlosen Beschleunigung, die sich darin zeigt, ein Luxusphänomen. Vielen Menschen ist es völlig fremd; und dennoch sind sie deshalb keineswegs Spießer oder zwanghaft. Bei anderen ist das Bummeln wohldosiert, sie wissen, wann sie es sich erlauben können und wann es sogar schön ist. Warum nicht einmal Bummeln? Meine kleine Tochter ist dankbar, wenn ich mich ihrer Geschwindigkeit anpasse. Das ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber am Ende war es oft gar kein Bummeln, sondern ich habe auf den gewohnten Wegen mehr gesehen als jemals zuvor. Vielleicht ist nicht nur relevant, was aufgeschoben wird, sondern auch, was in der Zeit des Aufschiebens erlebt wird – manchmal erhöhen Umwege die Ortskenntnis. Manchmal ist anderes viel wichtiger und schöner. Zu unterscheiden, welche Zeit nur verbrannt und destruktiv gefüllt wurde, und wann die Zögerlichkeit im Erledigen der Aufgaben sogar Vorteile bietet, darin liegt wohl die Kunst. Nachdenklichkeit und Achtsamkeit machen sicher das Leben langsam – aber beides vertreibt die Trägheit. Wer faul ist, denkt nicht. Die Urchristen sahen die Trägheit als eine Art Dämon, sie bezeichneten ihn als »Mittagsdämon«, mit gutem Gefühl für ein nachmittägliches Tief. Wer weiß, dass dieser Dämon existiert, kann den Kampf gegen ihn leicht gewinnen. Trägheit ist nie ein Argument, sie ist weder cool noch lässig. Zu arbeiten ist meist die bessere Entscheidung, weil danach der Hang zur Erholung wohlverdient ist und sehr viel schöner. Auf die Erholung müssen wir heute oft mehr achten als auf die Anstrengung, die sich bei kreativen Menschen von selbst Bahn bricht.

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Prokrastination: Von der Untugend der Trägheit

»Nicht bummeln!«, ein typischer Satz, der gegenüber Kindern ausgesprochen wird, oft endlos wiederholt. Wer im falschen Tempo unterwegs ist, der bummelt. Aber wer entscheidet überhaupt, welche Geschwindigkeit für die Erledigung von Aufgaben oder das Zurücklegen von Wegen angemessen ist? Da eine der wichtigsten Zeitdiagnosen der Gegenwart die Beschleunigung ist, können wir davon ausgehen: wir sind immer zu langsam. Scheinbar. Das Auto vor uns fährt zu langsam, der Zug ist zu langsam, die Passanten vor uns sind zu langsam und Kinder, behinderte oder alte Menschen sind mehr als zu langsam. Sie stören die, deren Alltag wirkt, als seien sie auf der Flucht. Es war abzusehen, dass die Sprache auf die scheinbare Langsamkeit reagiert und ein moralisch bedrohlicher Begriff erfunden wird – Prokrastination – er klingt wie eine Krankheit oder ein Straftatbestand. Auf jeder Lesung werde ich gefragt, was dagegen zu tun sei. Früher unterschied man fleißige von faulen oder trägen Menschen. »Faulheit ist der Hang zur Ruhe ohne vorhergehende Arbeit.« – noch Immanuel Kant konnte das Problem glasklar formulieren. Heute ist das wahrscheinlich etwas schwieriger. Auch Leistungsträger haben, weil das Tempo inzwischen unmenschlich hoch ist, einen Hang zum Aufschieben oder viel mehr: sie nehmen, was früher wohl einmal ganz normal war, als ein störendes Phänomen wahr. Überhaupt faulenzen zu können, also temporäre Trägheit dem Unerfreulichen vorzuziehen, ist in den Leitmilieus und unter Kreativen heute ein seltenes Phänomen. Die tatsächlich faulen Menschen, die es immer gab und geben wird, unabhängig vom Alter, ignoriere ich hier einmal bewusst. Ich meine die, die gern und leidenschaftlich arbeiten. Und die sollten sich über Prokrastination keine weiteren Gedanken machen, außer eben auf der Metaebene. Wer geht schon gern Unangenehmes als erstes an? Wer schafft es überhaupt, die eigenen Neigungen und Bewertungen einer Aufgabe übergehen zu können? Eine Eigenschaft, die im Buddhismus nicht umsonst erleuchteten Menschen zugesprochen wird, und zwar nur ihnen. Die anderen werden als basale Lebenserfahrung haben, dass jeder sich einmal darüber ärgert, etwas zu spät angegangen zu sein. Oft bleibt das folgenlos und wenn nicht, lernt man aus Fehlern, bekommt Streit mit anderen oder sich selbst. Alles andere scheint mir ein Zeitgeistphänomen zu sein, dem zu große Bedeutung zugesprochen wird. Prokrastination ist ebensowenig eine Störung wie Faulheit, es ist eine der Untugenden, mit denen Menschen zu tun haben und die überwunden werden will. In den Lehren der christlichen Wüstenväter, den ersten Mönchen, besteht ein klares Bewusstsein darüber, dass jedem gewisse Untugenden mitgegeben sind – sie gehören zur Grundausstattung einer aus dem Paradies vertriebenen Seele. Aber durch Reife, Erfahrung, Übung und Einsicht, auch durch Ehrgeiz und Leistungsorientierung gelingt es im Laufe eines bewussten Lebens meist, die Trägheit zu überwinden. Ich halte den alten Begriff der Trägheit für sinnvoller als das neudeutsche Prokrastinieren. Die Freiheiten nehmen mit zunehmendem Alter ab, die Pflichten zu, das Verantwortungsgefühl auch und vor allem die Einsicht, dass das Leben endlich ist. Egal ob wir selbst oder jemand im engen Umfeld ernsthaft erkrankt oder ein Mensch stirbt – es schärft unsere Wahrnehmung dafür, dass weder das Verbrennen noch das Überfüllen unserer Zeit die Lebensqualität erhöhen. »Ich kann, weil ich will, was ich muss.«, schrieb Kant. Die Steuererklärung, das Absolvieren von Prüfungen, die Hausarbeit, etwas Unangenehmes thematisieren – es gibt oft keine Alternative, als die Aufgaben anzugehen. Besser spät, als nie. In der vorher verstreichenden Zeit sammeln wir dafür Mut und Motivation. Ich halte das für keine Störung. Es kann sogar klug sein, weil es für ein Gespür spricht, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Ideen haben eine gewisse Inkubationszeit, sie reifen und arbeiten unbewusst in uns. Wer sich allerdings durch das konsequente Nichterledigen von Aufgaben selbst ins Aus schießt, der scheitert. Auch dazu hat jeder die Freiheit. In gewisser Weise wählte er, etwas nicht zu tun und trägt somit dafür selbst die Verantwortung. Das ist noch kein Grund für Mitleid. Prokrastination ist, abgesehen vom Zeitgeist einer maßlosen Beschleunigung, die sich darin zeigt, ein Luxusphänomen. Vielen Menschen ist es völlig fremd; und dennoch sind sie deshalb keineswegs Spießer oder zwanghaft. Bei anderen ist das Bummeln wohldosiert, sie wissen, wann sie es sich erlauben können und wann es sogar schön ist. Warum nicht einmal Bummeln? Meine kleine Tochter ist dankbar, wenn ich mich ihrer Geschwindigkeit anpasse. Das ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber am Ende war es oft gar kein Bummeln, sondern ich habe auf den gewohnten Wegen mehr gesehen als jemals zuvor. Vielleicht ist nicht nur relevant, was aufgeschoben wird, sondern auch, was in der Zeit des Aufschiebens erlebt wird – manchmal erhöhen Umwege die Ortskenntnis. Manchmal ist anderes viel wichtiger und schöner. Zu unterscheiden, welche Zeit nur verbrannt und destruktiv gefüllt wurde, und wann die Zögerlichkeit im Erledigen der Aufgaben sogar Vorteile bietet, darin liegt wohl die Kunst. Nachdenklichkeit und Achtsamkeit machen sicher das Leben langsam – aber beides vertreibt die Trägheit. Wer faul ist, denkt nicht. Die Urchristen sahen die Trägheit als eine Art Dämon, sie bezeichneten ihn als »Mittagsdämon«, mit gutem Gefühl für ein nachmittägliches Tief. Wer weiß, dass dieser Dämon existiert, kann den Kampf gegen ihn leicht gewinnen. Trägheit ist nie ein Argument, sie ist weder cool noch lässig. Zu arbeiten ist meist die bessere Entscheidung, weil danach der Hang zur Erholung wohlverdient ist und sehr viel schöner. Auf die Erholung müssen wir heute oft mehr achten als auf die Anstrengung, die sich bei kreativen Menschen von selbst Bahn bricht.

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