In dieser vierteiligen Artikelserie behandelt Martin Lorenz die Fragen: Was ist eine visuelle Identität? Wodurch zeichnet sich eine zeitgenössische visuelle Identität aus? Ist ein Logo eine visuelle Identität? Wodurch gewannen die flexiblen visuellen Identitäten an Popularität? Sind flexible visuelle Identitäten wirklich neu? Wie könnten flexible visuelle Systeme typologisiert werden?

Teil 1Teil 2Teil 3Teil 4

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Was ist eine visuelle identität?

Nicht nur Firmen (Corporations) haben Visuelle Identitäten (Corporate Identities). Jeder bewusste Zusammenschluss von Entitäten wird über eine ihnen gemeine (visuelle) Identität definiert. 1

Ein Beispiel: Ein Familienbetrieb stellt Schuhe her und verkauft diese in seinem eigenen Geschäft. Die Schuhe verkaufen sich gut, da sie die einzigen Schuhmacher in der Stadt sind. Der Schuhmacher muss nur kommunizieren, dass er Schuhe verkauft. Das einzige Kommunikationsmittel, das er braucht, ist ein Schild mit einem Schuh vor seinem Laden damit jeder weiß, wo man Schuhe kaufen kann. Die Identifikation durch das Produkt, den Schuh, ist ausreichend als Visuelle Identität (VI).

Fügen wir diesem Beispiel nun einen Konkurrenten hinzu. Ein weiterer Familienbetrieb, der auch Schuhe herstellt und verkauft, eröffnet ein Geschäft in derselben Straße. Familienbetrieb A hat nun kein einzigartiges Produkt mehr. Der Schuh als Identifikationselement reicht nicht mehr aus. Sollten A und B verschiedene Schuhe anbieten, muss das Symbol auf dem Ladenschild nur angepasst werden. Aus dem Schuh von A wird eine Sandale, aus dem Schuh von B ein Stiefel. Sollten A und B aber beide Stiefel anbieten, muss es ein anderes Unterscheidungsmerkmal geben, um dem Käufer zu erklären, was an dem Stiefel von A anders, bzw. besser ist, als an dem Stiefel von B. 2

Abb. 2. Der Fachbegriff für die visuelle Kommunikation einer Firma ist Corporate Design. Die Kommunikation im Allgemeinen wird Corporate Communication genannt. Nicht unwesentlich ist auch wie die Firma agiert (Corporate Actions). Corporate Communition, Corporate Design und Corporate Actions machen die Corporate Identity aus. Sie sind der Entwurf (Vorschlag), der das Corporate Image beeinflussen soll, also das Bild, das der Rezipient, oder Kunde von der Firma und dessen Produkt haben soll. Da das gewünschte Bild oft nicht dem tatsächlichen Bild entspricht, muss die Visuelle Identät ständig angepasst werden.

Teil einer VI ist nicht nur das Produkt, sondern auch durch wen es wo und wie verkauft wird, bzw. für es geworben wird. (Abb. 2) Wie sieht das Schuhgeschäft aus? Wie riecht es? Wie hört und fühlt es sich an? Wie sieht das Verkaufspersonal aus? Wie geht es mit den Kunden um? Wie sehen die Etiketten, der Schuhkarton und die Tasche, die man beim Einkauf dazu bekommt, aus? Ja sogar die Form des Schuhs, die über die reine Funktionalität des Schuhs hinaus geht, kann zum Unterscheidungsmerkmal und dadurch zum Identifikationselement werden. Außerdem könnten A und B im öffentlichen Raum kommunizieren. Plakate in den Straßen aufhängen, Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften schalten, Spots im Radio, im Kino und im Fernsehen laufen lassen. Sie könnten bekannte Personen des öffentlichen Lebens engagieren um ihre Schuhe tragen lassen.

All das sind Kommunikationsmittel, die genutzt werden können, um den Käufer zu überzeugen, dass die Schuhe von A anders, bzw. besser sind als die Schuhe von B. Der Kommunikationsprozess ist plötzlich deutlich komplexer geworden. Die Schuhmacher müssen realisieren, dass sie mit verschiedenen Menschen, an verschiedenen Orten, mit verschiedenen Interessen kommunizieren müssen. Sie brauchen eine Visuelle Identität, um kontrolliert kohärent kommunizieren zu können.

Das Beispiel illustriert die Teilbereiche einer Corporate Identity, d.h. die visuelle Identität einer Corporation, einer Firma. Eine Visuelle Identität kann aber auch die visuelle Kommunikation einer Veranstaltungsreihe, einer Publikationsreihe, einer Produktserie, einer Institution oder einer Organisation definieren. Selbst ohne Konkurrenten ist es wichtig, dass die Gruppierung ihre gemeinsame Identität definiert, um als Gruppe kommunizieren und agieren zu können.

Social Media hat die Kommunikation nur noch komplexer gemacht. Nicht nur haben sie neue Kommunikationskanäle geschaffen, sondern auch neue Kommunikationsformen. Während der Rezipient der traditionellen Kommunikation hauptsächlich Empfänger der Kommunikationsziele war, so ist er heute Teil des Kommunikationsprozesses. Er liked, teilt und kommentiert und beeinflusst damit andere Rezipienten, die wiederum zu Akteuren werden. 3

Jetzt, wenn nicht schon vorher, ist eine auf ein Logo basierende Visuelle Identität nicht mehr in der Lage angemessen zu kommunizieren. Sie passt sich nicht an die bedingenden Faktoren 4 der Kommunikation an und kann keine adäquaten Botschaften formulieren. Sie ist einsilbig, wenn Eloquenz von Nöten ist. Wir brauchen zeitgenössische Flexible Visuelle Identitäten, um auf zeitgenössische Probleme reagieren zu können.

Wodurch zeichnet sich eine zeitgenössische Visuelle Identität aus?

Während ein Logo eine Botschaft visualisiert, schafft eine Flexible Visuelle Identität (FVI) einen visuellen Wortschatz, der eine Vielzahl von Botschaften visualisieren kann. Die wachsende Popularität von FVI ist schon lange kein Trend mehr. Wir sind Zeugen eines fundamentalen Wandels, wie Firmen, Organisationen und Institutionen kommunizieren.

Die VI verändert ihre Funktionsweise. Als eine VI noch nicht in diesem Ausmaß vielseitig sein musste, war das Logo eine effektive Lösung. Durch die häufige Wiederholung der immer gleichen Form, brannte 5 sie sich in unser Gedächtnis ein. Die emotionale Aufladung der Form ließ bei der Betrachtung ein Gefühl entstehen, das unser Kaufverhalten verändern sollte. 6 Ein Grund, warum Logos mit langer Geschichte nicht über Nacht verschwinden werden.

Das bedeutet aber nicht, dass neue VI weiterhin basierend auf statischen Logos gestaltet werden müssen. Logos sind stark eingeschränkt, wenn es um die Anpassung an unterschiedliche Botschaften, Kontexte und Formate geht. Ein FVI hat dieses Problem nicht.

Auch wenn der Wandel von statischer zu flexibler VI unumgänglich ist und sich an vielen Orten schon vollzieht, so sehe ich doch an vielen Lehranstalten den Bedarf des Umdenkens. Anstatt in konkreten Lösungen zu denken, müssen wir lernen flexible Systeme zu entwickeln, die in Anbetracht des Kontextes 7 Lösungen generieren.

Eine VI, die die Lösung eines heutigen Problems ist, wird nicht in der Lage sein, zukünftige Probleme zu lösen. Die Welt verändert sich und so verändert sich auch unser Beruf. Das ist stimulierend und zugleich beängstigend. Es ist beängstigend, weil wir gezwungen sind, unser Denken, Lernen, Lehren, Arbeiten und Kommunizieren zu ändern, es ist aber auch spannend, weil neue Möglichkeiten darauf warten erforscht zu werden.

Ist ein Logo eine Visuelle Identität?

Für viele ist das Logo immer noch das Herzstück einer VI, wenn nicht sogar eine VI schlechthin. 8
Dementsprechend wird zunächst das Logo gestaltet und dann der Rest. Die Trennung von Logo und dem „Rest“ schafft zuweilen schwer überbrückbare Gräben. Die Visuelle Identität wird inkonsistent, da ihre Elemente nicht demselben System entspringen.

Welche Elemente (z. B. Schriften, Farben, Grafiken) benutzt werden und wie diese auf die verschiedenen Formate angewandt werden, scheint zweitrangig. Auch wenn das keinen Sinn macht, so ist es doch verständlich, dass viele nach diesem Prinzip arbeiten und lehren. Es ist sehr viel einfacher eine konkrete Form (Logo) zu gestalten als ein System, das eine situationsbedingte und damit sich ständig ändernde Form hervorbringt.

Aber langsam ändert sich unsere Denk- und Arbeitsweise. Einer der Gründe ist mit Sicherheit die Gestaltung von Webseiten und der Platz, den sie unserem Beruf eingenommen hat. Kaum eine Visuelle Identität kommt heute noch ohne eine Webseite aus. 9 Wir gewöhnen uns daran flexible Gestaltungsregeln aufzustellen, die auf verschiedenen Formaten (Viewports) gleich gut funktionieren. Wie sieht unsere Gestaltung aus, wenn das Browser-Fenster kleiner oder größer gezogen wird, die Webseite auf einem Desktop-Computer, Tablet oder Smartphone angeschaut wird, wenn das Gerät quer oder hoch gehalten wird und welcher Benutzer sich wie durch unsere Webseiten bewegt? Im Gestaltungsprozess werden diese Fragen gleichzeitig beantwortet.

Das Logo als eine statische, nicht veränderbare Form, ist in diesem flexiblen Umfeld fehl am Platz 10 Wenn es denn benutzt wird, dann füllt es oft einen sehr kleinen Raum auf der Webseite aus. Text 11 und Typographie, Bild und Farbe nehmen wesentlich mehr Platz ein und spielen damit eine wichtigere Rolle. Auf der einen Seite machen sie die VI sichtbar, also identifizierbar, auf der anderen Seite sind sie effektive und effiziente Werkzeuge der Kommunikation. Sie sind in der Lage, verschiedene Botschaften auf verschiedenen Ebenen zu formulieren. Das kann ein Logo nicht leisten. Es ist nicht überraschend, dass seit der globalen Einführung von webfonts 12 im Jahr 2009, charakteristische, einfach wiederzuerkennende Schriften eine größere Rolle bei der Gestaltung FVI gespielt hat. Wir können darauf gespannt sein wie Variable Fonts (Abb. 3) nicht nur die Typografie, sondern auch die Gestaltung von FVI und die visuelle Kommunikation im Allgemeinen verändern werden.

Abb. 3. Normierter Gestaltungsraum eines Variablen Fonts mit drei Achsen. [Schrift: Kepler, gestaltet von Robert Slimbach.] Quelle: Medium [Angesehen am 6.10.2017] Auf der ATypI Konferenz in Warschau gaben Apple, Google, Microsoft, und Adobe bekannt, dass sie zusammen an der Technologie für Variable Fonts arbeiten würden. Quelle: Typekit [Angesehen am 1.1.2017]

1Die Aufgabe des Kommunikations-Designers ist es diese (visuelle) Identität zu entwerfen. Ein Entwurf ist immer zielorientiert. Er ist der Versuch einer möglichst effizienten und effektiven Kommunikation. Kommunikation kann aber nur dann effizient und effektiv sein, wenn klar ist, was, wo, wann, an wen kommuniziert werden soll.

2Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss sich der Designer seiner ethischen und politischen Rolle bewusst werden. Wir müssen uns einerseits fragen „Können wir das Produkt, dessen Herstellung und Botschaft verantworten?“ und andererseits „Ist unsere Kommunikationsstrategie verantwortbar?“

3Komplexität bedeutet nicht Zufälligkeit. Die Vervielfältigung der Elemente des Kommunikationsprozesses und die dadurch resultierende Komplexität werden durch von Menschenhand entwickelte Algorithmen kontrolliert. Wann wir was und in welchem Zusammenhang sehen ist steuerbar. Darin besteht die Macht der scheinbar freien und scheinbar sozialen Netzwerke.

4Sender, Empfänger und das den Kommunikationsprozess beeinflussende Umfeld.

5Insofern war der Begriff „Branding“ durchaus treffend.

6Gobé, M. 2010 Emotional Branding: The New Paradigm for Connecting Brands to People Allworth Press, New York, USA

7Mit Kontext ist sowohl die Zeit, zu der die Kommunikation und der Ort, an dem sie stattfindet, gemeint, als auch die Person mit der kommuniziert werden soll.

8Jeder, der schon einmal eine VI gestaltet hat, weiß das eine VI mehr als nur ein Logo ist. Das Logo allein kann die Wiedererkennbarkeit der Firma auf allen Anwendungen nicht sichern. Es bedarf zumindest eines Farbschemas und einer Hausschrift. Desto verwunderlicher ist es, dass es immer noch Publikationen gibt, die das Logo isoliert betrachten. So wird aus einem Element mit einer Funktion, ein rein nach formalen Gesichtspunkten urteilbares Element. Wir katapultieren uns in die Zeit der Signets zurück.

9In nur 24 Jahren ist die Anzahl der Webseiten von 1 (1991) zu 863105652 (2015) gestiegen. Quelle: Internetlivestats [Angesehen am 2.10.2017]

10Ah! Ich höre einen Einwand: „Wir brauchen immer noch ein Signet für unsere Favicons und Profilbilder!“ Richtig. Aber ein visuelles System für eine FVI sollte in der Lage sein, kleine Signets, wie große Plakate, wie breite Banner oder hohe Fassadengestaltung zu generieren. Ein Signet ist nur eine Applikation unter vielen, nicht das Herz der FVI.

11„For packaged goods and businesses with physical touchpoints, logos are indeed important. But in an age of mobile devices and social media, when shopping is done online, not from the shelf, and there are only 73 x 73 pixels to display an avatar in a timeline, there’s much less point to them.“, schreibt Emily Penny und ich gebe ihr in sofern Recht, als der geschriebene Text an Bedeutung gewonnen hat und das Naming der Firma dabei eine wichtige Rolle spielt. Sie unterschätzt aber die Effektivität eines FVS bei der Wiedererkennung einer Marke. Quelle: Design Week [Angesehen am 2.10.2017]

12Die jüngere Generation mag sich nicht mehr erinnern, aber bevor WOFF (Web Open Font Format) im Jahr 2009 eingeführt wurde, war die Schriftauswahl für Webseiten auf die Systemfonts von PC und MAC beschränkt. Es war weniger ein technisches als ein rechtliches Problem. Die Schriften, die auf den Webseiten zu sehen sind, müssen temporär heruntergeladen werden, was die Nutzungsrechte der Schriften verletzt. Quelle: Monotype [Angesehen am 2.10.2017]

Flexible Visuelle Identitäten

In dieser vierteiligen Artikelserie behandelt Martin Lorenz die Fragen: Was ist eine visuelle Identität? Wodurch zeichnet sich eine zeitgenössische visuelle Identität aus? Ist ein Logo eine visuelle Identität? Wodurch gewannen die flexiblen visuellen Identitäten an Popularität? Sind flexible visuelle Identitäten wirklich neu? Wie könnten flexible visuelle Systeme typologisiert werden?

Teil 1Teil 2Teil 3Teil 4

DMIG_FVI_1

Was ist eine visuelle identität?

Nicht nur Firmen (Corporations) haben Visuelle Identitäten (Corporate Identities). Jeder bewusste Zusammenschluss von Entitäten wird über eine ihnen gemeine (visuelle) Identität definiert. 1

Ein Beispiel: Ein Familienbetrieb stellt Schuhe her und verkauft diese in seinem eigenen Geschäft. Die Schuhe verkaufen sich gut, da sie die einzigen Schuhmacher in der Stadt sind. Der Schuhmacher muss nur kommunizieren, dass er Schuhe verkauft. Das einzige Kommunikationsmittel, das er braucht, ist ein Schild mit einem Schuh vor seinem Laden damit jeder weiß, wo man Schuhe kaufen kann. Die Identifikation durch das Produkt, den Schuh, ist ausreichend als Visuelle Identität (VI).

Fügen wir diesem Beispiel nun einen Konkurrenten hinzu. Ein weiterer Familienbetrieb, der auch Schuhe herstellt und verkauft, eröffnet ein Geschäft in derselben Straße. Familienbetrieb A hat nun kein einzigartiges Produkt mehr. Der Schuh als Identifikationselement reicht nicht mehr aus. Sollten A und B verschiedene Schuhe anbieten, muss das Symbol auf dem Ladenschild nur angepasst werden. Aus dem Schuh von A wird eine Sandale, aus dem Schuh von B ein Stiefel. Sollten A und B aber beide Stiefel anbieten, muss es ein anderes Unterscheidungsmerkmal geben, um dem Käufer zu erklären, was an dem Stiefel von A anders, bzw. besser ist, als an dem Stiefel von B. 2

Abb. 2. Der Fachbegriff für die visuelle Kommunikation einer Firma ist Corporate Design. Die Kommunikation im Allgemeinen wird Corporate Communication genannt. Nicht unwesentlich ist auch wie die Firma agiert (Corporate Actions). Corporate Communition, Corporate Design und Corporate Actions machen die Corporate Identity aus. Sie sind der Entwurf (Vorschlag), der das Corporate Image beeinflussen soll, also das Bild, das der Rezipient, oder Kunde von der Firma und dessen Produkt haben soll. Da das gewünschte Bild oft nicht dem tatsächlichen Bild entspricht, muss die Visuelle Identät ständig angepasst werden.

Teil einer VI ist nicht nur das Produkt, sondern auch durch wen es wo und wie verkauft wird, bzw. für es geworben wird. (Abb. 2) Wie sieht das Schuhgeschäft aus? Wie riecht es? Wie hört und fühlt es sich an? Wie sieht das Verkaufspersonal aus? Wie geht es mit den Kunden um? Wie sehen die Etiketten, der Schuhkarton und die Tasche, die man beim Einkauf dazu bekommt, aus? Ja sogar die Form des Schuhs, die über die reine Funktionalität des Schuhs hinaus geht, kann zum Unterscheidungsmerkmal und dadurch zum Identifikationselement werden. Außerdem könnten A und B im öffentlichen Raum kommunizieren. Plakate in den Straßen aufhängen, Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften schalten, Spots im Radio, im Kino und im Fernsehen laufen lassen. Sie könnten bekannte Personen des öffentlichen Lebens engagieren um ihre Schuhe tragen lassen.

All das sind Kommunikationsmittel, die genutzt werden können, um den Käufer zu überzeugen, dass die Schuhe von A anders, bzw. besser sind als die Schuhe von B. Der Kommunikationsprozess ist plötzlich deutlich komplexer geworden. Die Schuhmacher müssen realisieren, dass sie mit verschiedenen Menschen, an verschiedenen Orten, mit verschiedenen Interessen kommunizieren müssen. Sie brauchen eine Visuelle Identität, um kontrolliert kohärent kommunizieren zu können.

Das Beispiel illustriert die Teilbereiche einer Corporate Identity, d.h. die visuelle Identität einer Corporation, einer Firma. Eine Visuelle Identität kann aber auch die visuelle Kommunikation einer Veranstaltungsreihe, einer Publikationsreihe, einer Produktserie, einer Institution oder einer Organisation definieren. Selbst ohne Konkurrenten ist es wichtig, dass die Gruppierung ihre gemeinsame Identität definiert, um als Gruppe kommunizieren und agieren zu können.

Social Media hat die Kommunikation nur noch komplexer gemacht. Nicht nur haben sie neue Kommunikationskanäle geschaffen, sondern auch neue Kommunikationsformen. Während der Rezipient der traditionellen Kommunikation hauptsächlich Empfänger der Kommunikationsziele war, so ist er heute Teil des Kommunikationsprozesses. Er liked, teilt und kommentiert und beeinflusst damit andere Rezipienten, die wiederum zu Akteuren werden. 3

Jetzt, wenn nicht schon vorher, ist eine auf ein Logo basierende Visuelle Identität nicht mehr in der Lage angemessen zu kommunizieren. Sie passt sich nicht an die bedingenden Faktoren 4 der Kommunikation an und kann keine adäquaten Botschaften formulieren. Sie ist einsilbig, wenn Eloquenz von Nöten ist. Wir brauchen zeitgenössische Flexible Visuelle Identitäten, um auf zeitgenössische Probleme reagieren zu können.

Wodurch zeichnet sich eine zeitgenössische Visuelle Identität aus?

Während ein Logo eine Botschaft visualisiert, schafft eine Flexible Visuelle Identität (FVI) einen visuellen Wortschatz, der eine Vielzahl von Botschaften visualisieren kann. Die wachsende Popularität von FVI ist schon lange kein Trend mehr. Wir sind Zeugen eines fundamentalen Wandels, wie Firmen, Organisationen und Institutionen kommunizieren.

Die VI verändert ihre Funktionsweise. Als eine VI noch nicht in diesem Ausmaß vielseitig sein musste, war das Logo eine effektive Lösung. Durch die häufige Wiederholung der immer gleichen Form, brannte 5 sie sich in unser Gedächtnis ein. Die emotionale Aufladung der Form ließ bei der Betrachtung ein Gefühl entstehen, das unser Kaufverhalten verändern sollte. 6 Ein Grund, warum Logos mit langer Geschichte nicht über Nacht verschwinden werden.

Das bedeutet aber nicht, dass neue VI weiterhin basierend auf statischen Logos gestaltet werden müssen. Logos sind stark eingeschränkt, wenn es um die Anpassung an unterschiedliche Botschaften, Kontexte und Formate geht. Ein FVI hat dieses Problem nicht.

Auch wenn der Wandel von statischer zu flexibler VI unumgänglich ist und sich an vielen Orten schon vollzieht, so sehe ich doch an vielen Lehranstalten den Bedarf des Umdenkens. Anstatt in konkreten Lösungen zu denken, müssen wir lernen flexible Systeme zu entwickeln, die in Anbetracht des Kontextes 7 Lösungen generieren.

Eine VI, die die Lösung eines heutigen Problems ist, wird nicht in der Lage sein, zukünftige Probleme zu lösen. Die Welt verändert sich und so verändert sich auch unser Beruf. Das ist stimulierend und zugleich beängstigend. Es ist beängstigend, weil wir gezwungen sind, unser Denken, Lernen, Lehren, Arbeiten und Kommunizieren zu ändern, es ist aber auch spannend, weil neue Möglichkeiten darauf warten erforscht zu werden.

Ist ein Logo eine Visuelle Identität?

Für viele ist das Logo immer noch das Herzstück einer VI, wenn nicht sogar eine VI schlechthin. 8
Dementsprechend wird zunächst das Logo gestaltet und dann der Rest. Die Trennung von Logo und dem „Rest“ schafft zuweilen schwer überbrückbare Gräben. Die Visuelle Identität wird inkonsistent, da ihre Elemente nicht demselben System entspringen.

Welche Elemente (z. B. Schriften, Farben, Grafiken) benutzt werden und wie diese auf die verschiedenen Formate angewandt werden, scheint zweitrangig. Auch wenn das keinen Sinn macht, so ist es doch verständlich, dass viele nach diesem Prinzip arbeiten und lehren. Es ist sehr viel einfacher eine konkrete Form (Logo) zu gestalten als ein System, das eine situationsbedingte und damit sich ständig ändernde Form hervorbringt.

Aber langsam ändert sich unsere Denk- und Arbeitsweise. Einer der Gründe ist mit Sicherheit die Gestaltung von Webseiten und der Platz, den sie unserem Beruf eingenommen hat. Kaum eine Visuelle Identität kommt heute noch ohne eine Webseite aus. 9 Wir gewöhnen uns daran flexible Gestaltungsregeln aufzustellen, die auf verschiedenen Formaten (Viewports) gleich gut funktionieren. Wie sieht unsere Gestaltung aus, wenn das Browser-Fenster kleiner oder größer gezogen wird, die Webseite auf einem Desktop-Computer, Tablet oder Smartphone angeschaut wird, wenn das Gerät quer oder hoch gehalten wird und welcher Benutzer sich wie durch unsere Webseiten bewegt? Im Gestaltungsprozess werden diese Fragen gleichzeitig beantwortet.

Das Logo als eine statische, nicht veränderbare Form, ist in diesem flexiblen Umfeld fehl am Platz 10 Wenn es denn benutzt wird, dann füllt es oft einen sehr kleinen Raum auf der Webseite aus. Text 11 und Typographie, Bild und Farbe nehmen wesentlich mehr Platz ein und spielen damit eine wichtigere Rolle. Auf der einen Seite machen sie die VI sichtbar, also identifizierbar, auf der anderen Seite sind sie effektive und effiziente Werkzeuge der Kommunikation. Sie sind in der Lage, verschiedene Botschaften auf verschiedenen Ebenen zu formulieren. Das kann ein Logo nicht leisten. Es ist nicht überraschend, dass seit der globalen Einführung von webfonts 12 im Jahr 2009, charakteristische, einfach wiederzuerkennende Schriften eine größere Rolle bei der Gestaltung FVI gespielt hat. Wir können darauf gespannt sein wie Variable Fonts (Abb. 3) nicht nur die Typografie, sondern auch die Gestaltung von FVI und die visuelle Kommunikation im Allgemeinen verändern werden.

Abb. 3. Normierter Gestaltungsraum eines Variablen Fonts mit drei Achsen. [Schrift: Kepler, gestaltet von Robert Slimbach.] Quelle: Medium [Angesehen am 6.10.2017] Auf der ATypI Konferenz in Warschau gaben Apple, Google, Microsoft, und Adobe bekannt, dass sie zusammen an der Technologie für Variable Fonts arbeiten würden. Quelle: Typekit [Angesehen am 1.1.2017]

1Die Aufgabe des Kommunikations-Designers ist es diese (visuelle) Identität zu entwerfen. Ein Entwurf ist immer zielorientiert. Er ist der Versuch einer möglichst effizienten und effektiven Kommunikation. Kommunikation kann aber nur dann effizient und effektiv sein, wenn klar ist, was, wo, wann, an wen kommuniziert werden soll.

2Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss sich der Designer seiner ethischen und politischen Rolle bewusst werden. Wir müssen uns einerseits fragen „Können wir das Produkt, dessen Herstellung und Botschaft verantworten?“ und andererseits „Ist unsere Kommunikationsstrategie verantwortbar?“

3Komplexität bedeutet nicht Zufälligkeit. Die Vervielfältigung der Elemente des Kommunikationsprozesses und die dadurch resultierende Komplexität werden durch von Menschenhand entwickelte Algorithmen kontrolliert. Wann wir was und in welchem Zusammenhang sehen ist steuerbar. Darin besteht die Macht der scheinbar freien und scheinbar sozialen Netzwerke.

4Sender, Empfänger und das den Kommunikationsprozess beeinflussende Umfeld.

5Insofern war der Begriff „Branding“ durchaus treffend.

6Gobé, M. 2010 Emotional Branding: The New Paradigm for Connecting Brands to People Allworth Press, New York, USA

7Mit Kontext ist sowohl die Zeit, zu der die Kommunikation und der Ort, an dem sie stattfindet, gemeint, als auch die Person mit der kommuniziert werden soll.

8Jeder, der schon einmal eine VI gestaltet hat, weiß das eine VI mehr als nur ein Logo ist. Das Logo allein kann die Wiedererkennbarkeit der Firma auf allen Anwendungen nicht sichern. Es bedarf zumindest eines Farbschemas und einer Hausschrift. Desto verwunderlicher ist es, dass es immer noch Publikationen gibt, die das Logo isoliert betrachten. So wird aus einem Element mit einer Funktion, ein rein nach formalen Gesichtspunkten urteilbares Element. Wir katapultieren uns in die Zeit der Signets zurück.

9In nur 24 Jahren ist die Anzahl der Webseiten von 1 (1991) zu 863105652 (2015) gestiegen. Quelle: Internetlivestats [Angesehen am 2.10.2017]

10Ah! Ich höre einen Einwand: „Wir brauchen immer noch ein Signet für unsere Favicons und Profilbilder!“ Richtig. Aber ein visuelles System für eine FVI sollte in der Lage sein, kleine Signets, wie große Plakate, wie breite Banner oder hohe Fassadengestaltung zu generieren. Ein Signet ist nur eine Applikation unter vielen, nicht das Herz der FVI.

11„For packaged goods and businesses with physical touchpoints, logos are indeed important. But in an age of mobile devices and social media, when shopping is done online, not from the shelf, and there are only 73 x 73 pixels to display an avatar in a timeline, there’s much less point to them.“, schreibt Emily Penny und ich gebe ihr in sofern Recht, als der geschriebene Text an Bedeutung gewonnen hat und das Naming der Firma dabei eine wichtige Rolle spielt. Sie unterschätzt aber die Effektivität eines FVS bei der Wiedererkennung einer Marke. Quelle: Design Week [Angesehen am 2.10.2017]

12Die jüngere Generation mag sich nicht mehr erinnern, aber bevor WOFF (Web Open Font Format) im Jahr 2009 eingeführt wurde, war die Schriftauswahl für Webseiten auf die Systemfonts von PC und MAC beschränkt. Es war weniger ein technisches als ein rechtliches Problem. Die Schriften, die auf den Webseiten zu sehen sind, müssen temporär heruntergeladen werden, was die Nutzungsrechte der Schriften verletzt. Quelle: Monotype [Angesehen am 2.10.2017]

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