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Die gerasterte Welt

Skizzen zu einer Theorie der Infografik

Artikel von Johannes Steil M. A.
Ein Blick in Otto Neuraths Isotype-Welt (Ausschnitt). Aus: Hartmann/Bauer: Bildersprache

Infografiken – ohne sie ist kaum noch eine Zeitung oder Zeitschrift vorstellbar, die über Politik und Wirtschaft berichtet. Kein Flughafen, kein Bahnhof, kaum ein Bürohaus ohne Piktogramme, die Orientierung geben sollen. Keine Gebrauchsanweisung ohne erläuternde Bilder.

Wo kommen diese Bilder her, die unser Leben mit ihrer Abstraktion erleichtern und ordnen? Selten wird gefragt, wer sie erfunden hat, was die dahinter stehenden Gedanken sind und ihre gesellschaftlichen Implikationen.

Für Antworten müssen wir Grenzen von Designmadeingermany überschreiten: räumliche, zeitliche wie auch solche der Fächer.

Als Erfinder der Infografik wird Otto Neurath gesehen, ein Österreicher mit bewegtem Lebenslauf. Nach einem Studium der Nationalökonomie in Berlin leitet er im Ersten Weltkrieg die Abteilung für Kriegswirtschaftslehre im österreichischen Kriegsministerium, wird 1919 Leiter des Zentralwirtschaftsamtes der Ersten Münchner Räterepublik, nach deren Ende Verhaftung und Auslieferung nach Österreich. In Wien gründet er 1924 das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, wo erste Bildstatistiken entwickelt werden. 1934 nach dem Sieg der Austrofaschisten erste Emigration in die Niederlande, von wo er 1940 nach dem Einmarsch der deutschen Faschisten weiter nach Großbritannien flieht. Dort stirbt er 1945 im Alter von 63 Jahren.

Oft wird Otto Neurath nur als Erfinder der Symbole für Leit- und Orientierungssysteme, der Icons für Computerprogramme und des Internets gesehen. Aber er wollte viel mehr: Nicht nur darstellen, sondern vor allem erklären, um zu bilden, um zu verändern, um für eine möglichst große Zahl von Menschen das größtmögliche Glück zu ermöglichen – in einer sozialistischen Gesellschaft, modelliert nach seinem Verständnis von Kriegswirtschaft: Vernünftige Planung, Naturalwirtschaft und optimierte Ressourcenverwendung für Alle statt wüsten und rücksichtslosen Drauflos’ im Interesse Weniger wie im Kapitalismus – unter Ausschaltung der Vermittlung durch den Handel.

Und genau die Vermittlung abzuschaffen, ist auch die Methode der universalen Bildsprache der Isotype, der Mutter aller Infografiken, die er am Gesellschafts- und Wirtschaftmuseum zu entwickeln beginnt. Gegen die Komplexität und Vieldeutigkeit der gesprochenen und geschriebenen Sprache setzt Neurath möglichst eindeutige Zeichen, von ihm auch als moderne Hieroglyphen bezeichnet, die möglichst beim ersten Blick zu erfassen sind, spätestens aber beim dritten: »Ein gutes Isotype-Bild sagt auf den ersten Blick das Wichtigste aus, auf den zweiten das Nächstwichtige, auf den dritten gibt es Einzelheiten zu erkennen, und wenn es auf den vierten Blick noch etwas zeigt, dann ist es kein gutes Isotype-Bild.«

Jegliche Vieldeutigkeit, jeglichen Doppelsinn will er der Sprache austreiben mit absolut eindeutigen Zeichen – und genau auf diesem Weg weg von der Eindimensionalität, die er der Sprache unterstellt, hin zu einem komplexeren und – nun ja, tieferen Verständnis von Gesellschaft. Aber gerade tiefer darf das größere Verständnis nicht sein für Neurath, für den die Oberfläche, für den mess-, zähl- und berechenbare Dinge alles sind, der jegliche Transzendenz oder übertragene Bedeutung ablehnt, jegliches Mehr als was der Fall ist. Für ihn ist die gesprochene wie geschriebene Sprache zu komplex aufgrund ihrer vielfältigen und individuellen Konnotationen und gleichzeitig eindimensional, weil zeilengebunden. Dagegen setzt er eindeutige, von allen individuellen Bedeutungen gereinigte Bilder, die eine umfassendere Möglichkeit des Verständnisses gesellschaftlicher Verhältnisse schaffen sollen. Mit simplifizierenden, unterkomplexen Begriffe ein Mehr an Erklärung – wie das?
Unter diesem utilitaristischen Konstruktionsfehler leidet die Infografik noch heute: Mit einer Aufreihung von Fakten, sei sie noch so umfangreich, lässt sich nicht mehr zeigen als eben Fakten, Fakten, Fakten. Beziehungen und Abhängigkeiten, Ursachen und Folgen, Bedeutungen lassen sich so nicht zeigen, Abstrakta ebenso nicht. Es ist kein Zufall, dass es bei Isotype unter den zweitausend Zeichen nur solche für Zählbares gibt, für Waren und Produkte, für Fabriken, für Transport- und Kommunikationsmittel, für Menschen in Funktionen – auch der Arbeitslose hat sein Funktion: untätig steht er (und: nur er) mit den Händen in den Hosentaschen herum.

Ein Arbeitsloser der Isotype neben seiner Linolschnittform – oder sind es 250.000 Arbeitslose? Aus: Hartmann/Bauer: Bildersprache

Kein einziges Zeichen für gesellschaftliche Verhältnisse, keines für Gefühle, Sehnsüchte, Wünsche. Hätte ein Sozialist wie Neurath nicht auch von Entfremdung, von Verdinglichung, vom Antagonismus zwischen individualisierter Akkumulation und vergesellschafteter Produktion, vom Primat der Mehrwertschaffung und der Internationalisierung aller dieser Prozesse sprechen müssen? Vom Zusammenhang von Armut und Faschismus – gerade er, der zweimal vor den Nationalsozialisten fliehen musste? Hätte er nicht auch von Demokratie und Emanzipation sprechen müssen?

Auch gibt es bei Neurath kein Zeichen für ästhetische Dinge, für Kunst und Kultur. Dabei thematisiert er die ästhetische Dimension durchaus. Seine Bildersprache soll unmittelbar einleuchten, also ohne gedankliche Reflexion verstanden werden. Die dafür nötige ästhetische Qualität könnten nur ausgebildete Fachleute bieten. Über diese Frage kann Neurath nur schreiben in der von ihm wegen ihrer gleichzeitig viel zu hohen Komplexität wie ihrer Eindimensionalität abgelehnten Schriftsprache. In seiner eindeutigen Bildsprache fehlen jegliche Begriffe dafür. Mehrdimensionalität will er erreichen durch eine flexible Anordnung der immergleichen Elemente, auch die Besucher der von ihm eingerichteten Ausstellungen sollen durch Umstellen der Ausstellungstafeln neue Beziehungen zwischen den dargestellten Sachverhalten schaffen können. Als könne man nicht auch ohne Moderationswolken und Aktionspfeile Beziehungen schaffen, darstellen und analysieren mithilfe von Wörtern. Ihm ist das gespannte Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in den Begriffen überhaupt kein Thema. In seinen Schriften stehen die Aussagen und Argumente völlig beziehungslos nebeneinander. Auch sprachlich kennt er keinerlei Vermittlung, wie sich an der großen Zitatcollage im Hartmann/Bauer-Band zeigt: nirgends ein Übergang, aber auch nirgends ein Sprung zwischen zwei Absätzen. Auch hier die Vorwegnahme der Arbeit am Computer: analoges Drag-and-Drop sozusagen, keine Entwicklung eines Gedankens. Es ist fast wie die heutige Behauptung: mehr Fakten = mehr Wissen = mehr Verstehen. Aber nur fast: Heute ist alles ungeordnet und ungeprüft, bei Neurath waren alle Angaben streng geprüft und streng eingeordnet ins Raster der Bilder.

Auch hier: Keine Vermittlung, kein Nebensatz, in denen die Diskussion und damit die Demokratie stecken. Aber um die ging es ihm ja sowieso nie bei seiner begriffslosen Gesellschaftsanalyse, ihm war alles nur Objekt der Statistik und Verwaltung. Die Parallelisierung zweier Sachverhalte war alles, was er an Zusammenhang darstellen konnte – daran hat sich nichts geändert in der Infografik.

Keine Frage, die Icons machen uns das Leben einfacher mit ihrer weltweit mehr oder weniger gleichen Gestaltung – die Differenzen der Gestaltung ist fast nur noch für den Spezialisten erkennbar. Genauso hilfreich ist eine bildliche Erklärung der Benutzung eines Münztelefons oder der Anbringung einer Fahrradbremse oder der Funktionsweise eines Kernkraftwerks – ohne Bilder ungleich schwerer dazustellen.

Doch so angebracht eine Bildersprache für eindeutige Dinge wie technische Abläufe oder Wegweiser ist, so wenig ist sie als Mittel der gesellschaftlichen Aufklärung geeignet. Sie kann die vielfältigen Beziehungen und Abhängigkeiten in der Gesellschaft nicht wiedergeben. Sie sind einfach zu komplex. So zeigte Neurath schon zu Beginn seiner Arbeit »den Zusammenhang zwischen Einkommen, Wohnverhältnissen und Kindersterblichkeit in verschiedenen Wiener Gemeindebezirken« – aber den gibt es heute anscheinend nicht mehr: in den USA war die Kindersterblichkeit in den 90er-Jahren auf dem gleichen Stand wie in Kuba, allerdings bei einem gut 30-mal höheren Pro-Kopf-Einkommen und deutlich besseren Wohnverhältnissen. Was uns verdeutlicht: eine einfache parallele Darstellung nackter Daten sagt keinen Deut mehr als die Daten, ein Zusammenhang wird nur behauptet – und es muss offensichtlich noch andere Faktoren für die Höhe der Kindersterblichkeit geben, vielleicht die Organisation des Gesundheitssystems. Vielleicht sogar ein unterschiedliches Gesellschaftssytem: einmal muss jeder sehen, wo er bleibt, ist jeder seines Glückes Schmied, einmal soll die Gesellschaft dafür Sorge tragen, dass es keinem zu schlecht geht, dass Alle ein Auskommen haben. Aber solche Unterschiede sind qualitative Unterschiede, die keine Statistik erfassen kann. Sie müssen also aus der Infografik draußen bleiben, da diese einzig quantitative Aussagen bildlich darstellen kann.

Von der »Sichtbarmachung von sozialen und ökonomischen Relationen«, von der Frank Hartmann spricht, kann keine Rede sein. Die Bildstatistik konnte nie eine »Waffe im Kampf um eine verbesserte Lebenssituation« sein, da sie nur zeigen kann, was ist, sie aber keine Möglichkeit hat, Kritik zu formulieren. Sie muss sich zwangsläufig jeglicher Transzendenz enthalten, jedes Gedankens an eine andere, bessere Gesellschaft, ihr bleibt einzig reine Immanenz – die ewig gleiche Wiederholung des Bestehenden. Und dafür hat sie bloß: »immer das gleiche Zeichen«. Entwicklung bedarf jedoch der Kritik, der Unzufriedenheit mit dem, was ist, des negativen Denkens – und sei es nur für die Verbesserung des Dosenöffners.

So wenig Neuraths Methode seinen sozialen und politischen Zielen gerecht wird, so wenig wird sie den Menschen gerecht, weder denen, von denen sie handelt, noch denen, für die sie gemacht wurde. In ihrem Bestreben, die Welt abzubilden, wie sie ist, ignoriert sie die individuellen Erfahrungen der einzelnen Menschen, nachdem diese von den gesellschaftlichen Läufen schon einmal entindividualisiert wurden als bloße Funktion der Maschinerie. Sind die Zustände schon so, dass sie dem Einzelnen immer weniger fassbar sind, wird der Einzelne dann durch die begriffslose Darstellung in der Infografik auch noch abgeschafft, indem er nur noch Exemplar der Statistik, nur noch ein Fall mit Nummer ist. Dass hinter jeder hübschen Figur der statistischen Darstellung Hunderte, Tausende verschiedener chooner Männer, Frauen, Kinder stehen, die alle ihre eigene Geschichte und Erfahrung, ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte haben, dafür gibt es keinen Platz und keine Worte, weder bei Neurath damals noch heute im Designdiskurs. Ihre jeweilige Besonderheit wird in der simplifizierenden Darstellung der »modernen Hieroglyphen« (Neurath) so grundlegend negiert, dass mit ihr zugleich auch die Fähigkeit abgeschafft wird, das Ganze begreifend zu verstehen. Im unmittelbaren Einleuchten, das die Infografik anstrebt, wird Denken zur rein mechanischen Operation ohne gedankliche Reflexion. Die »blinde, begrifflose Subsumtion« des Dargestellten – der einzelnen Menschen in ihren je eigenen Verhältnissen – unter das Dargestellte – die Reihung der immergleichen Schablonenfiguren – schafft gleichzeitig die Fähigkeit ab, diese falsche Abstraktion zu begreifen. Dieser Sieg der Mathematik über die Individualität und über das Besondere ist nirgends so deutlich wie in Otl Aichers Piktogrammen für die Olympischen Spiele in München, die seit einiger Zeit allerorten als heiter verklärt werden.

Otl Aichers von allem Leben befreites Leichtathletik-Zeichen für die Olympischen Spiele 1972 in München. Abbildung aus: Hartmann/Bauer: Bildersprache

In ihrer absoluten Konstruktion zeigen sie die Nähe von Neurath und Aicher: Beide hatten das Ziel, die perfekte Welt zu entwerfen an ihren Reißbrettern, ein totalitäres Vorhaben, in dem die Bedürfnis der Menschen, für die es angeblich durchgeführt wird, keinerlei Rolle spielen, in dem der Designer alles bestimmt. Und damit ist die Kritik des Logoismus, der die Welt und die Menschen in ein Darstellungs- und Interpretationsraster zwingen und damit alle eigene Erfahrung unmöglich machen will, eine höchst aktuelle Aufgabe.


Zum Weiterlesen
Frank Hartmann, Erwin K. Bauer: Bildersprache. Otto Neuraths Visualisierungen, Wien 2006.
Theodor W. Adorno: Bilderbuch ohne Bilder, in: ders.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, S. 262ff., Frankfurt am Main 2001 (Reprint der Erstausgabe von 1951).

Zum Autor
Johannes Steil studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte in Kassel und Hamburg, er arbeitet seit 1996 als Grafikdesigner mit dem Schwerpunkt Buchgestaltung und Typographie.

Vgl. die verschiedenen Tagungsbeiträge in Hartmann/Bauer.
Über die potenziell antisemitischen Aspekte der Ablehnung des Zwischenhandels sprechen wir ein andermal.

Isotype
International System of typographic picture education, auch pseudo-griechisch: immer das gleiche Zeichen.

Zitiert nach:
Hartmann/Bauer, S. 85.
Adorno, S. 262.