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Ordnung ist ...

Artikel von Klaus-Peter Staudinger

1. ... relativ und abstrakt

Es gibt ja die Theorie, dass das Chaos nur eine höhere Form der Ordnung sei. Das mag einerseits etwas waghalsig klingen, ist aber andererseits kaum bestreitbar. Denn Ordnung ist immer auch eine Frage des Blickwinkels. Man braucht sich dafür nur Google Earth zu bedienen: Je weiter man wegzoomt, desto geordneter erscheinen die irdischen Strukturen. Ein anderes Klischee besagt, dass, wer Ordnung hält, nur zu faul zum Suchen sei. Auch da ist sicher etwas dran. Und »suchen« ist schon genau das richtige Stichwort

Jegliche gestalterische Ordnung ist zunächst einmal nicht Selbstzweck, sondern sie soll Menschen dazu dienen, sich in komplexen Strukturen zurecht zu finden. Die Hilfsmittel oder Tools sind dabei:

Sortierung

Systematik

Hierarchien

Gliederung

Struktur


Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier soll von gestalterischer Ordnung – von Menschen für Menschen – die Rede sein. Wenn es darum geht, was unsere Welt im Innersten zusammen hält, ziehen die Natur- oder Geisteswissenschaften, die Psychologie, die Religionen bis hin zu den esoterischen Lehren zum Teil sehr unterschiedliche Schlüsse. Ein gemeinsamer Nenner scheint aber zu sein, dass jegliche Ordnung aus dem Chaos geboren oder geschaffen wird. »Nur wer das Chaos in sich trägt, kann einen tanzenden Stern gebären« stellte schon der Philosoph Nietzsche fest.
Und frei nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik »Energie kann weder erzeugt noch vernichtet, sondern nur in andere Energiearten umgewandelt werden« lässt sich folgern, dass beide Zustände die Seiten einer Medaille sind. In diesem Sinne ist das Chaos auch nicht die Abwesenheit jeglicher Ordnung. Nach heutigem Wissenschaftsstand über komplexe Systeme generiert chaotisches Verhalten in der Regel sogar geordnete Strukturen. Bevor diese sich dann wieder im Chaos auflösen ...

2. ... beglückend für den Rezipienten

In gewissem Sinne scheint das Ordnen der Dinge – aber auch der Gedanken – ein Grundbedürfnis des Menschen zu sein. Wenn wir eine Ordnung oder auch Unordnung nicht verstehen, löst dies häufig Angst oder Unruhe aus. Wir suchen instinktiv nach Ordnungssystemen, um uns in der Welt zu orientieren. Angewandt kann man sich Ordnungssysteme sehr gut am Beispiel Einrichtung veranschaulichen. Dort lassen sich folgende Archetypen finden, die alle für sich genommen in jeweiliger Funktion ihre Besitzer glücklich machen:

Die verteilten Kommoden – Einmal irgendwo abgelegt, erstmal nicht wieder gesehen! Der »Einräumer« hat einen eindeutigen Vorteil fürs Wiederfinden. Hilfreich ist es, wenn jeder einzelne Schrank eine klare Funktion (oder einen eindeutig zugeordneten Besitzer) hat.

Die klassische Schrankwand – Funktionelle Gliederung entspricht in der Regel der optischen Struktur. Nach außen hin ein perfekter Eindruck – was hinter den Türen oder in den Schubladen vor sich geht, ist oft eine andere Sache. Zusätzlich gibt es Möglichkeiten zur individuellen Profilierung: Vitrinen, Säulen, Lichtleisten etc.

Das offene Regal – Lieblingsobjekt derer, die immer alles im direkten Zugriff haben müssen. Nicht nur ist es schnell ab- und an anderer Stelle wieder aufgebaut: Man kann jederzeit sehen, was sich wo befindet. Experten sortieren trotzdem z.B. Bücher nach Farben, Größen, Themen oder Verlagen.

Die Registraturen – Eine nützliche Erfindung der Bürowelt. Einzelne »Vorgänge« werden in beschrifteten Hängeregistern abgelegt, bei Bedarf lassen sich auch die Schränke als solche beschriften. In der kollektiven Ansammlung wird ein richtiges Archiv draus.

Die Sonderformen – Dazu gehören Einbauschränke, Spinde, Hänge- oder Unterschränke, aber auch jegliche flexible Systeme. Ein schwedisches Möbelhaus hat die Aufbewahrungsboxen für offene Regalsysteme aufgebracht – und damit einen erweiterten Standard kreiert.

3. ... funktional für Gestalten

Was finden wir nun wo in der grafischen Gestaltung wieder?
Die vorgestellten Methoden und Ordnungssysteme für sich führen nicht zwingend zu profunder Gestaltung. Im einen Fall sind es abstrakte Handlungsanweisungen für die Vorarbeit, im Anderen möglicherweise hilfreiche Metaphern, die man im Hinterkopf behalten kann. Wie man die Gestaltung konkret angeht oder sich in ihr »einrichtet«, hängt auch von weiteren Parametern ab. Zunächst einmal ist zu sagen, dass jedes Layout für sich zumindest den Versuch darstellt, eine gewisse Ordnung zu schaffen.

Auch wenn es manchmal anders erscheint: Gestaltung ist ja, wie bereits eingangs erwähnt, nicht Selbstzweck. Sie dient dazu, andere Menschen – z.B. Kunden, eine bestimmte Zielgruppe etc. – zu informieren, interessieren oder gar zu etwas zu animieren. Dazu bedarf es neben den zu vermittelnden Inhalten optischer Reize, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, aber je komplexer das Thema ist, auch einer gewissen »Aufgeräumtheit«. Wenn der visuelle Geräuschpegel insgesamt zu hoch oder zu diffus ist, werden einzelne Signale nicht mehr wahrgenommen. Am Anfang muss also sortiert werden: Was ist ganz wichtig, weniger wichtig, vielleicht sogar nahezu unwichtig? Das gilt für textliche Inhalte wie für Abbildungen in Form von Fotos, Illustrationen, Diagrammen. Dazu kommen die der jeweiligen gestalterischen Idee innewohnenden Elemente. Texte werden in der Regel sortiert nach Überschriften (Headlines), Unterzeilen (Sublines) und dem Fließtext (Copytext). Daneben gibt es noch die Bildunterschriften, Legenden, Zusätze und einer Reihe anderer funktionaler Textpartikel. Dies alles ist nun mit dem zur Verfügung stehenden Abbildungsmaterial und den gewählten grafischen Mitteln in einer Weise anzuordnen, die dem jeweiligen Anspruch bzw. der Intention entspricht.

4. ... kontrovers fürs Publikum

Ordnung hat auf jeden Fall etwas mit Auffindbarkeit zu tun. Ein Klischee des kreativen Genius besagt ja, dass bei diesem ein Chaos auf dem Schreibtisch oder im Atelier herrschen muss. Was für manchen Betrachter ein heilloses Durcheinander darstellt, kann sich in der Tat bei näherer Untersuchung um ein sorgsam gehütetes oder ausgetüfteltes System handeln. Manchmal ist es aber einfach nur historisch gewachsen. Wer dieses jedoch verändert (z.B. die berühmte Reinemachfrau), sorgt dafür, dass der eigentliche Urheber nichts mehr wiederfindet. Das genau gegenteilige Klischee ist das des peniblen Beamten, der auf seinem Schreibtisch (bevorzugt zum Feierabend oder unmittelbar vor Arbeitsbeginn) die Sachen rechtwinklig zueinander anordnet. Natürlich sind alle Bleistifte frisch gespitzt, Stapel und Mappen sorgsam platziert. So, dass es eben gerade noch nach einer Bearbeitung aussieht und nicht nach urlaubsbedingter Abwesenheit. Diese Extrempole drücken subjektive Vorlieben aus, die für den Einzelnen funktionieren mögen. In der Gestaltung ist es aber so, dass hier ein Konsens bedient werden muss. Ein größter gemeinsamer Nenner bzw. eine angepeilte Zielgruppe muss die für sie bestimmte Information herausfiltern können. Der Begriff der Ordnung kann überdies zielgruppenspezifisch beurteilt werden – aber auch nach der Funktion des Designs.

Ein junges Publikum wird in der Regel mit »etwas mehr Chaos« gut leben können, während »eine bestimmte Ordentlichkeit«, mit der ältere Semester angesprochen werden sollen, bei jenen weniger gut ankommt. Und umgekehrt. Wenn nun aber die Rechnung des Internet- oder Telefon-Providers, die Betriebskostenabrechnung des Vermieters oder die Gehaltsabrechnung des Arbeitgebers »im kreativen Chaos« versinken, werden beide Gruppen – völlig zu Recht – unzufrieden sein. Da wo es nicht um emotionale Ansprache, sondern um strikte Information geht, ist eine gute Sortierung der zu vermittelnden Inhalte unerlässlich. Die meisten Informationsbroschüren oder Geschäftsberichte im Printbereich und ebenso wichtige Nachrichten- / Serviceportale im Netz lösen dies ein, weil es zu ihren zentralen Aufgaben gehört. Auch viele Bücher gehören dazu – ob mit oder ohne Bilder. Allzu verspieltes Layout findet man nur in begründeten Ausnahmen. Kindgerecht-verspielt bedeutet keineswegs automatisch Durcheinander. Die Königsdisziplin – also Hardcore-Sortierung aufgrund der oft komplexen Anforderung – stellen Orientierungs- und Wegeleitsysteme dar. Niemand, aber auch wirklich niemand, möchte freiwillig von einem solchen System in die Irre geschickt werden. Also wird sorgsam sortiert, strukturiert, angeordnet. Was überhaupt nicht heißt, dass auch die besondere Atmosphäre eines Ortes mit hineingebracht werden kann. Viele Beispiele aus den letzten Jahren belegen dies. Geht es allerdings nur um Atmosphärisches, so werden sie als reines Leitsystem versagen.

5. ... mit leidenschaftlicher Arbeit verbunden

Wer Ordnung schaffen will, muss erstmal seinen Gegenstand, sein gesammeltes Material sortieren. Die einfachste Sortierung kann über die Typografie erfolgen. Selbst wenn man bei einer Schrift oder Schriftfamilie bleibt, sind die Möglichkeiten der Textstrukturierung über Größen, Schnitte und Auszeichnungen schon groß. Beginnt man gar, Schriften zu mischen, werden sie sogar immens – und dann besteht schnell die Gefahr, dass es wieder unübersichtlich wird.

Alle typografischen Auszeichnungen können als Sortierhilfe dienen, vor allem kann man aber Hierarchien schaffen. Beim Sortieren entstehen automatisch Güteklassen (»Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen«), die nicht auf einer inhaltlichen Ebene liegen. Unterschiedliche Schriftgrößen (Legenden, Fußzeilen, Quellennachweise) oder unterschiedliche Fettungen, auch Einzüge sind ein probates Mittel. Für die vertikale Struktur eignen sich Spiegelstriche, Punkte, Pfeile und alles, was sich stilistisch an das Design anlehnt und nicht Holzhammer mäßig à la PowerPoint verfährt.
Jeder Satzspiegel gibt eine Struktur vor, vor allem wenn man das Schriftbild in verschiedene Spalten einteilt. Ausgewogenheit mag hier ein Stichwort sein. Ein Außenrand von einem Millimeter wirkt vielleicht avantgardistisch, aber auch hölzern. 10 horizontale Spalten auf einer A4-Seite ebenso wie Abstände über einem halben Zentimeter bei idealen drei Spalten ordnen zwar, schaffen aber eindeutig und unwiderruflich Lesewiderstände.

Eine ausgefuchste Methode, um den Satzspiegel in sich zu strukturieren – aber auch um ihm Rhythmus und Flexibilität zu geben – ist der typografische Raster. Vereinfacht gesagt, wird die Fläche in eine beliebige Anzahl von gleich großen Zellen zerlegt. Die Proportionen, Außenkanten und Zwischenräume sind fest definiert – Die Belegung mit Text- oder Bildelementen kann darüber relativ frei gehandhabt werden. Man muss keineswegs eine Ideologie daraus machen und kann auch auf unorthodoxe Weise prima damit arbeiten.
Der Autor selbst liebt neben guter Typografie vor allem Farbcodes. Seitenstruktur und Rhythmus in der Gestaltung können hervorragend über die Farbgebung ausgelebt werden. Wichtig ist: Eine bestimmte Zahl von Farben muss für einen Farbcode nahezu gleichwertig nebeneinander bestehen können! Die Intensität der gewählten Farben hängt immer vom Sujet ab. Genau wie das Spektrum: bonbonfarben, Comic haft, gedämpft, pastellig, dezent-kühl, wohltemperiert bis feurig ... Farben können flächig, punktuell oder auch diffus – außerdem opak, transparent oder gar fluoreszierend aufgetragen und eingesetzt werden. Entscheidend ist, welche Art von Ordnung man mit diesem Mittel zu unterstützen gedenkt. Im Aquarell stellen frei gelassene Stellen die hellsten – somit das Licht – dar. Auch das dezidierte Weglassen gehört also zur Ordnungsbildung.

6. ... ???

Abschließend lässt sich wohl sagen, dass es die Ordnung im Design nicht gibt. So verlockend eine wie auch immer gestaltete Harmonie sein mag, sie steht nah an der Schwelle zur Langeweile. Typografische Symmetrie stellt nach Meinung des Autors sogar die weitgehende Abwesenheit von Gestaltung dar. Der Eindruck der Vollkommenheit entsteht oft erst dadurch, dass kleine Brüche eingebaut werden. Das im Detail Unvollkommene kann so im Ganzen Übersichtlichkeit, Ausgewogenheit, Klarheit – und Spannung beinhalten. Entscheidend ist, wie wir die Ordnungssysteme lesen, ob wir sie erfassen können. Voraussetzung für jegliche Gestaltung ist daher auch, dass zuvor ein sorgfältiger Filterprozess durchlaufen wird. Für die entsprechend sortierten Inhalte lässt sich immer irgendein Ordnungssystem anwenden.

Wenn unserem Universum, unserer Existenz eine höhere Ordnung zugrunde liegt, wird sie vielleicht kaum oder nur in Teilen erkennbar. Dies zu sehen oder zu glauben, ist letztlich auch eine Sache des individuellen Weges, der eigenen Erfahrung. Gestaltung kann für den Betrachter unordentlich oder ordentlich erscheinenn – ist aber per se immer eine Form von Ordnung.


Ordnungssysteme

Schrankfronten

Schränke und Schranksysteme bieten verschiedene Möglichkeiten der Sortierung. Direkter Zugriff oder verdeckte Privatsphäre?


Regale / Grids

Das Regalsystem ist die dreidimensionale Erscheinungsform des Rastersystems. Raster manifestieren sich in Zellen oder geordneten Linienstrukturen (Grids).



Tempel / Ryokan

Puristische Ordnung findet man z.B. in der japanischen Tradition. Aber nicht jeder kann die lockere Ordnung eines Tempelgartens für sich umsetzen.

Hütchen / Kleinobjekte

Nicht in Reih und Glied und auch nicht sortiert – Eher ungeordneter Wust oder überkomplexe Ordnung?

TypoChaos

Verlässt die Typo die abgestammte Schriftlinie, entsteht sofort ein ungeordnetes Chaos. Zweifellos nett anzuschauen, doch ohne verständliche Botschaft.




Strandchaos

Taue und Netze, von Wind und Wellen nach eigenen Gesetzmäßigkeiten »geordnet«.

Decollage

Anti-Ordnung durch willkürliche Benutzung. In jeder modernen Großstadt zu besichtigen.

Links

Straßenverkehrs-Ordnung
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Schöner Wohnen - Ordnung
Gestaltungsraster – Ordnung muss sein!
Aufgeräumt statt ausgeräumt - Perfekte Ordnung in futuristischem Design
Ordnung ist Möglich
Ordnungshalber
Geometrische Ordnung