Kann man die deutsche Designikone noch neu denken? Fontwerk ist überzeugt: Ihrer Zeitlosigkeit zuliebe muss man es!
Mit einem kompakten und strengen Gesamteindruck, dem Zusammenspiel von neun – teilweise extremen – Breiten, einem Variable-First-Ansatz sowie einem Hauch Eleganz haben Hendrik Weber, Andreas Frohloff und Olli Meier die Anforderungen der digitalen Welt mit einer modernen Vorstellung deutscher Ingenieurskunst gekreuzt. Die Neue DIN ist flexibel und entfesselt ein neues Normschrift-Gefühl. Wie schon vor 100 Jahren: 100% Made in Berlin.
Wie zu Beginn der Berliner Normschriftengeschichte waren kurz zuvor entstandene technische Rahmenbedingungen die entscheidenden Einflussfaktoren für Designentscheidungen. Stand vor 100 Jahren die Reproduzierbarkeit im Vordergrund, heißen diese Faktoren heute Variable-Fonts. Die kontinuierlich an Bedeutung gewinnende Technologie stellte das Team ins Zentrum ihrer Überlegungen. Um die Synergien von Design und Technik bestmöglich zu nutzen, arbeiteten die Gestalter Hendrik Weber und Andreas Frohloff Hand in Hand mit Fontwerks Font-Engineer Olli Meier, der später ebenfalls Ideen beisteuerte und Designaufgaben übernahm. Die variable Breite (insbesondere der Condensed und der Wide) wurde in vielen Punkten stilbildend. Im Ergebnis erscheint die normale Breite neutraler als bei DINs, die von jener Grundform her gedacht sind.
Als Schwierigkeit entpuppte sich die Beantwortung der Frage, wie weit man sich von den Vorgaben der Norm entfernen können. Mutige, reizvolle Explorationen, die jedoch den prägnanten Mix aus geometrischer Konstruktion und Offenheit zu verlieren drohten, wurden verworfen. Die Schrift sollte eine DIN bleiben – in all ihrer Schlichtheit und Zeitlosigkeit. Ihre strenge Geometrie und Buchstaben, die wie eine Kette zusammenhängen, wurden als ihr gestalterischer Schlüssel identifiziert. Trotzdem wuchs der Wunsch nach einer eleganten Note, Andreas Frohloff hatte die zündende Idee: „Alle senkrechten Rundungen, etwa die Seiten des o, d oder g, sind rund, haben keine Geraden und schwingen leicht.“ Die Bögen fallen zwar nicht ins Auge, geben der Schrift aber den gewünschten Hauch Eleganz. Mit diesen subtilen organischen Formen und einem ausbalanciertem Spacing wurde der sachliche Charakter gewahrt und ein eigenständiges und zukunftsfähiges Design erschaffen.
Das offensichtlichste Alleinstellungsmerkmal der Neuen DIN ist jedoch das stringente Zusammenspiel von neun aufrechten Schnitten (Thin–Black) und neun Breiten (XXCondensed, XCondensed, Condensed, SemiCondensed, Normal, SemiWide, Wide, XWide, XXWide). Die enorme Bandbreite gepaart mit der Flexibilität der Variable-Fonts-Technologie setzt ein durch und durch neues DIN-Gefühl frei, auch weil sich die extremen Breiten zunächst ungewohnt anfühlen. Mit dem ureigenen Ingenieursansatz der DIN 1451 sind sie aber nicht nur konsequent, sie machen auch großen Spaß. In diesen Bereichen die robuste industrielle Anmutung zu bewahren war eine der größten Herausforderungen.
Olli Meier begründet die Entscheidung für neun Breiten so: „Die DIN neu zu denken bedeutet auch, vom Web und responsiven Umgebungen auszugehen und sie derart zu gestalten, dass sie in CSS reibungslos funktioniert“. Deshalb entsprechen die 81 Schnitte jenen, die die CSS-Spezifikation vorgibt (Cascading-Style-Sheets: Sprache zum Gestalten elektronischer Dokumente, z.B. im Web). Die Spezifikation sieht eine Matrix vor, in welcher die Breiten einer Schrift auf der x-Achse, die Strichstärken auf der y-Achse liegen. Dabei hat der Thin-Schnitt einen Wert von 100, die Regular einen von 400 und die Black von 900. Die normale Breite beträgt 100 Prozent, die der Condensed 75 und der Wide 150 Prozent. Der Schnitt Condensed Thin hat demnach einen Wert von 75 auf der x- und 100 auf der y-Achse. Wechselt man die Breite, bleibt der Strichstärkenwert bei 100. In der statischen Welt nimmt man jedoch häufig einen optischen Ausgleich vor, macht etwa die schmalen Schnitte leichter und die breiten fetter. Die Neue DIN bietet damit eine 100%ige CSS-Kompatibilität.
Subtilere Design-Unterschiede zu ihren Vorgängern kann man im kompakten Gesamteindruck und der klaren Neuinterpretation des Strichverlaufs erkennen, welcher noch ein wenig strenger, normierter auftritt. Bedingt durch die technische Ausrichtung der Körperformen wurden breite Punzen gezeichnet, Zeichen wie t, f, r und 1 etwas breiter gestaltet. 145 Alternativformen für Q, a, u, l, r, 6, 7 und 9, runde Punkte sowie Pfeile, Ziffern in Kreisen und Quadraten runden das variierbare Gesamtbild ab. Eine Besonderheit stellt die Unterstützung des jüngst von Christoph Koeberlin vorgeschlagenen Standard-Latin-Charactersets dar, welches 100 zusätzliche, bisher aber von Foundries meist ignorierte Sprachen umfasst. Inspiriert von seiner Initiative kann die Neue DIN von 3 Milliarden Menschen – auch jenseits des westlichen Tellerrands – genutzt werden.
Die Vielzahl an Details und die lang ersehnte Flexibiliät der Neuen DIN fügen dem Spektrum der deutschen Normschrift eine vitale Variante hinzu. Sie ist kompakt, streng und glänzt mit einer dezenten Prise Eleganz. Will man im Bild ihres Ursprungs bleiben, ist die Neue DIN dank modernem Zusammenspiels von Design und Technik von der Eisenbahn- und Autobahn-Schrift zur Schrift für die Mobilität der Zukunft geworden – in all ihrer gestalterischen, lokalen und aktivistischen Stringenz.
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