Annabell Ritschel studierte Kommunikationsdesign mit einem Master in Informationsdesign an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. In ihrer Bachelorarbeit »vom Finden des richtigen Moments« befasste sie sich eingehend mit Prokrastinationsverhalten sowie dessen Ursachen, Folgen aber auch positiven Aspekten und erzählt darüber in unserem Interview.

Prokrastination bezeichnet das Verhalten, als notwendig aber unangenehm empfundene Arbeiten immer wieder aufzuschieben.

Vom Finden des richtigen Moments

Was verbirgt sich hinter dem Wort Prokrastination?

Der Begriff »Prokrastination« leitet sich aus der Präposition pro »für« und dem Adjektiv crastinus »morgig« ab, bezeichnet also das Aufschieben von Pflichten und Aufgaben – auf morgen, oder übermorgen, oder überübermorgen und während der Begriff in diesem Zusammenhang noch immer relativ unbekannt ist, scheint das Verhalten, das sich dahinter verbirgt, jedem nur zu gut bekannt zu sein. Man geht davon aus, dass rund 90% der westlichen Bevölkerung prokrastinieren, ein Viertel davon sogar so stark, dass man von einem Leiden sprechen kann.

Vom Finden des richtigen Moments

Welche Ursachen gibt es?

Ursachen scheint es viele zu geben, doch kann keine davon als sicherer Auslöser für die Prokrastination festgemacht werden: Perfektionismus, schlechte Angewohnheit, erhöhte Impulsivität, also die Unfähigkeit, Belohnungen aufzuschieben oder schlichtweg Überforderung; Über die Gründe des Aufschiebens herrschen bis heute die unterschiedlichsten Ansichten, eine einheitliche Theorie gibt es nicht und damit auch kein Pauschalrezept, wie man damit umzugehen hat. Fest steht, dass all diese Emotionen offensichtlich zu inneren Konflikten beitragen, denen man durch die Flucht ins Aufschieben zu entkommen versucht.

Ich glaube, dass vor allem fehlende Motivation eine der größten Ursachen für Prokrastination ist. Unter dem Begriff Motivation versteht man die Bereitschaft, etwas zu tun, abhängig von bestimmten Erwartungen, Motiven und Emotionen. Kommen diese Emotionen von innen, also aus uns selbst heraus, sind wir bestrebt, etwas zu tun, weil es uns Spaß macht, es unsere Interessen befriedigt und im besten Fall herausfordernd ist. Wird Motivation allerdings nur von außen erzeugt, uns also auferlegt, was wir zu tun oder zu lassen haben, sehen wir diese Tätigkeiten nur als »Mittel zum Zweck« oder zum Entgehen einer Strafe.

Vom Finden des richtigen Moments

Wann ist Prokrastination etwas völlig normales und ab welchem Punkt kann man von einer Krankheit sprechen? Wann macht es Sinn sich professionelle Hilfe zu holen?

Jeder von uns schiebt hin und wieder gewisse Dinge auf: Telefonanrufe, Arzttermine, die Steuererklärung, … Die Liste ist endlos und besonders unliebsame Aufgaben vertragt man gerne mal auf morgen was – abgesehen von dem schlechten Gewissen, das jeder Form der Prokrastination zugrunde liegt – nicht weiter tragisch ist.

Die »problematische Prokrastination« geht schon einen Schritt weiter, die Betroffenen sehen ihr Verhalten selbst als Problem, schaffen es letztendlich aber doch, »alles auf die Reihe zu kriegen«. Grund dafür ist laut Fred Rist, Psychologie-Professor an der Universität Münster, der sogenannte Avoidence-Avoidence-Konflikt: Einerseits will man die unangenehme Arbeit vermeiden, andererseits aber auch die unangenehmen Folgen. Je näher die Deadline kommt, desto mehr antizipiert man die negativen Konsequenzen, so dass das eine Unangenehme schließlich das andere überwiegt.

Ganz anders die »harte« Prokrastination. Unter ihr versteht man das Aufschieben von Aufgaben, die als wichtig, vorrangig und termingebunden einzustufen sind, trotzdem aber immer weiter verzögert werden. Diese Form der Prokrastination erzeugt Leid und wirkt sich negativ auf das Selbstwertgefühl aus. Für die Betroffenen scheint das zwanghafte, gar chronische Aufschieben zur Qual geworden zu sein sodass sie täglich mit sich und ihrem Verhalten hadern, es aber dennoch nicht schaffen, »sich einfach mal zusammenzureißen«. Das schlechte Gewissen plagt sie und ihre Angst lässt sie nachts nicht schlafen. Die Schlaflosigkeit wiederum führt zu körperlichen Beschwerden und im schlimmsten Fall sogar zur Depression. In diesem Fall sollte man sich dringend Hilfe suchen!

Vom Finden des richtigen Moments

Ist die Thematik für bestimmte Alters- und Berufsgruppen oder Kulturen besonders relevant?
Wer ist betroffen, wer bleibt verschont und was sind die Ursachen dafür?

Manche Menschen sind wesensbedingt erhöht motivationsabhängig. Sie schaffen es nur unter großer Überwindung, Tätigkeiten, die als unangenehm oder langweilig empfunden werden und deren Gewinn erst sekundär oder zukünftig entsteht, in Angriff zu nehmen. Besonders Studenten, deren Alltag sehr frei und ohne feste Rhythmen verläuft, fällt es oft schwer, sich selbst zu disziplinieren, weshalb die Prokrastination in diesem Zusammenhang auch mit dem Begriff »Studenten-Syndrom« umschrieben wird. Auch hier gilt: Wer innerlich motiviert an Aufgaben herangeht, prokrastiniert weniger bis gar nicht, weshalb tatsächlich die Vermutung nahe liegt, dass diese Art der Motivation − oder vielmehr ihr Fehlen − ein Schlüssel zur Prokrastination zu sein scheint …

Vom Finden des richtigen Moments

Würde es Sinn ergeben das Thema im Studium oder bereits in der Schule zu behandeln? (Falls ja, in welchem Rahmen?)

Sicherlich, denn der Grundstein für ein aufschiebendes Verhalten kann bereits in frühester Kindheit gelegt werden. So schaffen beispielsweise Eltern, die jeden kleinen Schritt mit Lob quittieren, unrealistische Standards und absurde Erwartungen an äußerem Zuspruch. Bleibt der aus, erleben Kinder das als Versagen und weil sie nicht gelernt haben, sich durchzubeißen, schieben sie Schritte, die eine gewisse Härte gegen sich und andere erfordern, auf. Kinder, deren Eltern hingegen kalt und fordernd sind, haben keine andere Möglichkeit zu rebellieren als Sachen einfach nicht zu tun. Demnach sollten Eltern, aber auch Lehrer eine gesunde Mischung aus fordernden Ansprüchen und lobenden Zusprüchen finden, um auf ungewohnte Situationen bestmöglich vorzubereiten.

Vom Finden des richtigen Moments

Was genau hat Dich an dem Thema interessiert? Auf welche Aspekte beziehst Du Dich besonders mit Deiner Abschlussarbeit?

Ich fand vor allem die Tatsache spannend, dass zwar kaum jemandem der Begriff »Prokrastination« geläufig war, die Erklärung darüber, was dahintersteckt, aber immer die selbe Reaktion zur Folge hatte, nämlich »Ah, ja, kenn’ ich!«. Tatsächlich schien jeder, mich inbegriffen, von Zeit zu Zeit gewisse Dinge vor sich herzuschieben und ich wollte wissen, warum, sodass ich mich intensiv mit diesem Verhaltensmuster auseinandergesetzt habe und neben der Untersuchung des typischen Verhaltens, den unterschiedlichsten Ursachen und möglichen Folgen vor allem der Frage nachgegangen bin, ob das Aufschieben von Aufgaben und Pflichten tatsächlich immer nur ein negatives Erscheinungsbild ist, das laut zahlreichen Ratgeberbüchern behandelt und geheilt werden müsse, oder ob dieses Verhalten durchaus auch Vorteile mit sich bringen kann.

Vom Finden des richtigen Moments

Welche positiven Seiten hat Prokrastination?

Aufschieben ist immer auch arbeiten, denn wenn eine bestimmte Zeitspanne als verschwendet gelten soll, darf sich keinerlei persönlicher, sozialer oder materieller Nutzen daraus ergeben. Viele Tätigkeiten werden also fälschlich als »Zeitverschwendung« eingestuft, denn tatsächlich kann sich fast jede Beschäftigung auf die ein oder andere Art als nützlich und damit positiv erweisen.

In diesem Zusammenhang stieß ich auf eine Studie namens »Rethinking Procrastination«, die zu dem Ergebnis kommt, dass sich aktives Prokrastinationsverhalten − anders als oft angenommen − tatsächlich positiv auf Einstellung und Leistung auswirken kann. Während viele Menschen Aufgaben aufgrund von Ängsten vermeiden und ständig mit dem schlechten Gewissen zu kämpfen haben, entscheiden sich aktive Prokrastinatoren freiwillig für ein Aufschieben, um unter dem notwendigen Druck arbeiten zu können. Sie passen sich spontan ihrer Umgebung an, meistern neue Herausforderungen und können so erwiesenermaßen effizienter arbeiten.

Prokrastination darf also nicht nur als »Dysfunktion« verstanden werden, die diagnostiziert und geheilt werden müsste, sondern auch als »Funktion und Strategie«, die es zu entdecken und zu kultivieren gilt. Robert Schumann beispielsweise spielte lieber Klavier, statt sein Jurastudium voranzutreiben. Linus Torvalds schloss sein Informatikstudium lange nicht ab, weil er währenddessen das Betriebssystem »Linux« entwickelte und die Coen-Brüder schrieben das Drehbuch zu »Barton Fink«, weil sie mit dem Drehbuch zu »Miller’s Crossing« nicht vorankamen.

Vom Finden des richtigen Moments

Wie ist der Zusammenhang zwischen »dem richtigen Moment« und Prokrastination?

Ausschlaggebend für den Arbeitstitel »Vom Finden des richtigen Moments« war das Verhalten Marcel Prousts im Bezug auf sein Werk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Meine Arbeit beginnt mit der Geschichte des heute bekannten Schriftstellers, der jahrelang unter dem festen Vorhaben litt, ein Buch zu schreiben. Er hatte es sich immer und immer wieder fest vorgenommen, er war motiviert und bester Vorsätze, doch konnte er aus irgendeinem Grund einfach nicht damit beginnen. Tag für Tag suchte er nach neuen Ausreden, die sein Verhalten begründeten und fasste täglich neue Vorsätze, wie er − ab morgen − endlich mit der Arbeit beginnen könne, bis ihn schließlich das Wissen über sein baldiges Ableben zu Höchstformen auflaufen ließ und er binnen weniger Wochen sein Lebenswerk auf mehreren tausend Seiten niederschrieb …

Er hatte für sich den richtigen Moment gefunden, war innerlich motiviert und damit bereit Dinge zu tun, die niemand mehr für möglich gehalten hätte. Der Titel meiner Arbeit soll demnach, anders als viele Ratgeberbücher, nicht vorschreibend oder fordernd klingen, sondern im Gegenteil Mut machen.

Vom Finden des richtigen Moments

Was war die wichtigste Erkenntnis, die Du gewonnen hast?

Prokrastination hat mit Faulheit nichts zu tun.

Vom Finden des richtigen Moments

Hat sich durch die Auseinandersetzung mit dem Thema für Dich nachhaltig etwas verändert? Gelingt es Dir, deine Erkenntnisse im Alltag umzusetzen?

Ja und Nein. Natürlich schiebe ich auch heute noch gewisse Dinge vor mir her, bin mir mittlerweile aber darüber bewusst, dass manche Dinge einfach ein Dutzend mal verschoben werden müssen, bis man sie vergisst oder sie einem egal werden. Gerade in der heutigen Zeit nehmen wir uns oft alles Mögliche und damit viel zu viel vor, sodass uns unser schlechtes Gewissen irgendwann unweigerlich plagt, weil alles auf einmal gar nicht zu schaffen ist. Im Idealfall hat man also ein oder zwei Aufgaben, die so wichtig sind, dass man sie unmöglich vergessen kann. Der Rest muss nicht heute erledigt werden, denn irgendwann wird er sich von selbst wieder melden – oder eben egal werden.

Vom Finden des richtigen Moments

Bist Du auf vorhandenes Material mit konkretem Designbezug gestoßen? Kannst Du Bücher oder Internetseiten empfehlen?

Neben unterschiedlichsten Studien und Recherchetexten habe ich mich unter anderem auch mit dem Buch »Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin« von Katrin Passig und Sascha Lobo beschäftigt, da es eines der wenigen Bücher ist, die das Thema ebenfalls auf eine eher positive und ermutigende Weise behandeln.

Außerdem sehr gut gefallen hat mir die Arbeit »Pro – Du bist Prokrastinationskönig, du bist Prokrastinationskönigin«, die zur Zeit während meiner Recherche bei euch auf der Seite vorgestellt wurde. Anna Sommerer befasst sich in ihrer spielerischen Abschlussarbeit ebenfalls auf positive Weise mit dem Thema, indem sie vor allem Studierende erreichen will, die aufgrund ihres Verhaltens mit einem schlechten Gewissen zu kämpfen haben.

Vom Finden des richtigen Moments

In welcher Form greifst Du das Thema gestalterisch auf bzw. wie setzt Du es visuell um? Welche Elemente, Farben oder Regeln spielen eine besondere Rolle und warum?

Prokrastination führt unweigerlich zu Zeitdruck und damit zu dem Problem, bestimmte Aufgaben nicht mehr rechtzeitig fertigstellen zu können, sodass – wenn überhaupt – nur noch Zeit für das Nötigste bleibt. Diesen Aspekt greife ich in der Umsetzung meiner Arbeit auf. Bestehend aus ungebundenen Einzelseiten im Standardformat DIN A4, lediglich von einem Gummiband zusammengehalten, »schnell« schwarzweiß gedruckt und mit zahlreichen »Fehlern« gespickt, soll alles den Eindruck vermitteln, die Zeit hätte nicht mehr gereicht, sich intensiver damit auseinanderzusetzen. Aus diesem Grund habe ich auch nur eine Schrift verwendet, nämlich die »Minion Pro« in Anlehnung an die »New York Times«, die in den meisten Programmen als Standardschrift voreingestellt ist. Die grauen Gestaltungselemente deuten Platzhalter an, die aufgrund der fehlenden Zeit leer geblieben sind. Einige Seiten zeigen zwar ein Raster, aber keinen Text, andere sind komplett weiß.

Da ich die Arbeit flexibel konzipieren wollte, je nachdem, wieviel Zeit dem Leser zur Verfügung steht, sich damit zu beschäftigen, habe ich zum einen ein Leitsystem entwickelt, das systematisch durch die Arbeit führt, während aber gleichzeitig auch jede Seite für sich stehend gelesen und verstanden werden kann. Inhaltliche Querverweise bieten dann wiederum die Möglichkeit, an anderer Stelle weiterzulesen und tiefer in das Thema einzutauchen.

Vom Finden des richtigen Moments

Textauszug:

Überforderung

Es blinkt, es piept, es klingelt − und das den ganzen Tag.

[…]

Inzwischen scheinen alle Menschen unter dem Gefühl zu leiden, dass sie, egal was sie anfangen, eigentlich schon zu spät dran sind. Immer will irgendwer irgendwas − und das schnell. Das ist nicht zu schaffen, aber dem Hamsterrad entziehen kann sich auch keiner wirklich, weshalb sich der moderne Mensch permanent im Zustand des schlechten Gewissens befindet, woran vor allem die Digitalisierung der Welt eine große Mitschuld trägt: 47 neue E-Mails heute, 29 gelöscht, acht beantwortet. Die anderen zehn? Morgen! Elf Anrufe in Abwesenheit, vier neue Updates verfügbar. Lena hat auf Facebook geschrieben, Dominik auch. Stefan hat dich zu einer Veranstaltung eingeladen: Nehme teil − Nehme nicht teil − Antwort auf … Telefon!

Die ständige Informationsflut stört die Konzentration und sie bringt Menschen vermehrt dazu, Arbeitsprozesse abzubrechen und Aufgaben immer weiter aufzuschieben. Durchschnittlich elf Minuten am Stück, so eine Untersuchung von Computerwissenschaftlern der University of California in Irvine, können wir uns im Alltag einer Aufgabe widmen, bevor ein Anruf, eine E-Mail, eine Kurznachricht oder eine Ablenkung jeglicher Art uns stört, weshalb der amerikanische Psychiater Edward M. Hallowell die Prokrastination in diesem Zusammenhang mit einer »natürlichen Reaktion auf Überforderung« begründet.

Vom Finden des richtigen Moments

Der Mensch ist zum Arbeiten geboren, wie der Vogel zum Fliegen

Deadlines sind unverzichtbar, wenn es darum geht, sich bei der Bearbeitung von Aufgaben zu motivieren, die nicht zu einhundert oder mehr Prozent aus einer geliebten Tätigkeit bestehen. Dabei ist es oft schwierig zu sagen, warum wir etwas gerne tun und noch schwieriger ist es festzustellen, warum wir etwas nur ungern tun.
Fest steht: Der Mensch ist erwiesenermaßen am glücklichsten, wenn er arbeitet, und zwar dann, wenn es sich um eine machbare, aber fordernde und vor allem selbstgewählte Aufgabe handelt. Nur dann gelangt man in den »Flow-Zustand«, der so heißt, weil er einen bei der Arbeit Zeit und Raum vergessen lässt.
Dieser Zustand ist sozusagen der Heilige Gral der Motivation, die verhaltenspsychologisch oft untersucht und mit einer Vielzahl verschiedener Theorien beschrieben worden ist, nach denen sich ihr störrisches Wesen im Einzelfall aber eben nicht immer richtet.
[…]

Abschlussarbeiten über Prokrastination – Annabell Ritschel src=

Abschlussarbeiten über Prokrastination – Annabell Ritschel

Annabell Ritschel studierte Kommunikationsdesign mit einem Master in Informationsdesign an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. In ihrer Bachelorarbeit »vom Finden des richtigen Moments« befasste sie sich eingehend mit Prokrastinationsverhalten sowie dessen Ursachen, Folgen aber auch positiven Aspekten und erzählt darüber in unserem Interview.

Prokrastination bezeichnet das Verhalten, als notwendig aber unangenehm empfundene Arbeiten immer wieder aufzuschieben.

Vom Finden des richtigen Moments

Was verbirgt sich hinter dem Wort Prokrastination?

Der Begriff »Prokrastination« leitet sich aus der Präposition pro »für« und dem Adjektiv crastinus »morgig« ab, bezeichnet also das Aufschieben von Pflichten und Aufgaben – auf morgen, oder übermorgen, oder überübermorgen und während der Begriff in diesem Zusammenhang noch immer relativ unbekannt ist, scheint das Verhalten, das sich dahinter verbirgt, jedem nur zu gut bekannt zu sein. Man geht davon aus, dass rund 90% der westlichen Bevölkerung prokrastinieren, ein Viertel davon sogar so stark, dass man von einem Leiden sprechen kann.

Vom Finden des richtigen Moments

Welche Ursachen gibt es?

Ursachen scheint es viele zu geben, doch kann keine davon als sicherer Auslöser für die Prokrastination festgemacht werden: Perfektionismus, schlechte Angewohnheit, erhöhte Impulsivität, also die Unfähigkeit, Belohnungen aufzuschieben oder schlichtweg Überforderung; Über die Gründe des Aufschiebens herrschen bis heute die unterschiedlichsten Ansichten, eine einheitliche Theorie gibt es nicht und damit auch kein Pauschalrezept, wie man damit umzugehen hat. Fest steht, dass all diese Emotionen offensichtlich zu inneren Konflikten beitragen, denen man durch die Flucht ins Aufschieben zu entkommen versucht.

Ich glaube, dass vor allem fehlende Motivation eine der größten Ursachen für Prokrastination ist. Unter dem Begriff Motivation versteht man die Bereitschaft, etwas zu tun, abhängig von bestimmten Erwartungen, Motiven und Emotionen. Kommen diese Emotionen von innen, also aus uns selbst heraus, sind wir bestrebt, etwas zu tun, weil es uns Spaß macht, es unsere Interessen befriedigt und im besten Fall herausfordernd ist. Wird Motivation allerdings nur von außen erzeugt, uns also auferlegt, was wir zu tun oder zu lassen haben, sehen wir diese Tätigkeiten nur als »Mittel zum Zweck« oder zum Entgehen einer Strafe.

Vom Finden des richtigen Moments

Wann ist Prokrastination etwas völlig normales und ab welchem Punkt kann man von einer Krankheit sprechen? Wann macht es Sinn sich professionelle Hilfe zu holen?

Jeder von uns schiebt hin und wieder gewisse Dinge auf: Telefonanrufe, Arzttermine, die Steuererklärung, … Die Liste ist endlos und besonders unliebsame Aufgaben vertragt man gerne mal auf morgen was – abgesehen von dem schlechten Gewissen, das jeder Form der Prokrastination zugrunde liegt – nicht weiter tragisch ist.

Die »problematische Prokrastination« geht schon einen Schritt weiter, die Betroffenen sehen ihr Verhalten selbst als Problem, schaffen es letztendlich aber doch, »alles auf die Reihe zu kriegen«. Grund dafür ist laut Fred Rist, Psychologie-Professor an der Universität Münster, der sogenannte Avoidence-Avoidence-Konflikt: Einerseits will man die unangenehme Arbeit vermeiden, andererseits aber auch die unangenehmen Folgen. Je näher die Deadline kommt, desto mehr antizipiert man die negativen Konsequenzen, so dass das eine Unangenehme schließlich das andere überwiegt.

Ganz anders die »harte« Prokrastination. Unter ihr versteht man das Aufschieben von Aufgaben, die als wichtig, vorrangig und termingebunden einzustufen sind, trotzdem aber immer weiter verzögert werden. Diese Form der Prokrastination erzeugt Leid und wirkt sich negativ auf das Selbstwertgefühl aus. Für die Betroffenen scheint das zwanghafte, gar chronische Aufschieben zur Qual geworden zu sein sodass sie täglich mit sich und ihrem Verhalten hadern, es aber dennoch nicht schaffen, »sich einfach mal zusammenzureißen«. Das schlechte Gewissen plagt sie und ihre Angst lässt sie nachts nicht schlafen. Die Schlaflosigkeit wiederum führt zu körperlichen Beschwerden und im schlimmsten Fall sogar zur Depression. In diesem Fall sollte man sich dringend Hilfe suchen!

Vom Finden des richtigen Moments

Ist die Thematik für bestimmte Alters- und Berufsgruppen oder Kulturen besonders relevant?
Wer ist betroffen, wer bleibt verschont und was sind die Ursachen dafür?

Manche Menschen sind wesensbedingt erhöht motivationsabhängig. Sie schaffen es nur unter großer Überwindung, Tätigkeiten, die als unangenehm oder langweilig empfunden werden und deren Gewinn erst sekundär oder zukünftig entsteht, in Angriff zu nehmen. Besonders Studenten, deren Alltag sehr frei und ohne feste Rhythmen verläuft, fällt es oft schwer, sich selbst zu disziplinieren, weshalb die Prokrastination in diesem Zusammenhang auch mit dem Begriff »Studenten-Syndrom« umschrieben wird. Auch hier gilt: Wer innerlich motiviert an Aufgaben herangeht, prokrastiniert weniger bis gar nicht, weshalb tatsächlich die Vermutung nahe liegt, dass diese Art der Motivation − oder vielmehr ihr Fehlen − ein Schlüssel zur Prokrastination zu sein scheint …

Vom Finden des richtigen Moments

Würde es Sinn ergeben das Thema im Studium oder bereits in der Schule zu behandeln? (Falls ja, in welchem Rahmen?)

Sicherlich, denn der Grundstein für ein aufschiebendes Verhalten kann bereits in frühester Kindheit gelegt werden. So schaffen beispielsweise Eltern, die jeden kleinen Schritt mit Lob quittieren, unrealistische Standards und absurde Erwartungen an äußerem Zuspruch. Bleibt der aus, erleben Kinder das als Versagen und weil sie nicht gelernt haben, sich durchzubeißen, schieben sie Schritte, die eine gewisse Härte gegen sich und andere erfordern, auf. Kinder, deren Eltern hingegen kalt und fordernd sind, haben keine andere Möglichkeit zu rebellieren als Sachen einfach nicht zu tun. Demnach sollten Eltern, aber auch Lehrer eine gesunde Mischung aus fordernden Ansprüchen und lobenden Zusprüchen finden, um auf ungewohnte Situationen bestmöglich vorzubereiten.

Vom Finden des richtigen Moments

Was genau hat Dich an dem Thema interessiert? Auf welche Aspekte beziehst Du Dich besonders mit Deiner Abschlussarbeit?

Ich fand vor allem die Tatsache spannend, dass zwar kaum jemandem der Begriff »Prokrastination« geläufig war, die Erklärung darüber, was dahintersteckt, aber immer die selbe Reaktion zur Folge hatte, nämlich »Ah, ja, kenn’ ich!«. Tatsächlich schien jeder, mich inbegriffen, von Zeit zu Zeit gewisse Dinge vor sich herzuschieben und ich wollte wissen, warum, sodass ich mich intensiv mit diesem Verhaltensmuster auseinandergesetzt habe und neben der Untersuchung des typischen Verhaltens, den unterschiedlichsten Ursachen und möglichen Folgen vor allem der Frage nachgegangen bin, ob das Aufschieben von Aufgaben und Pflichten tatsächlich immer nur ein negatives Erscheinungsbild ist, das laut zahlreichen Ratgeberbüchern behandelt und geheilt werden müsse, oder ob dieses Verhalten durchaus auch Vorteile mit sich bringen kann.

Vom Finden des richtigen Moments

Welche positiven Seiten hat Prokrastination?

Aufschieben ist immer auch arbeiten, denn wenn eine bestimmte Zeitspanne als verschwendet gelten soll, darf sich keinerlei persönlicher, sozialer oder materieller Nutzen daraus ergeben. Viele Tätigkeiten werden also fälschlich als »Zeitverschwendung« eingestuft, denn tatsächlich kann sich fast jede Beschäftigung auf die ein oder andere Art als nützlich und damit positiv erweisen.

In diesem Zusammenhang stieß ich auf eine Studie namens »Rethinking Procrastination«, die zu dem Ergebnis kommt, dass sich aktives Prokrastinationsverhalten − anders als oft angenommen − tatsächlich positiv auf Einstellung und Leistung auswirken kann. Während viele Menschen Aufgaben aufgrund von Ängsten vermeiden und ständig mit dem schlechten Gewissen zu kämpfen haben, entscheiden sich aktive Prokrastinatoren freiwillig für ein Aufschieben, um unter dem notwendigen Druck arbeiten zu können. Sie passen sich spontan ihrer Umgebung an, meistern neue Herausforderungen und können so erwiesenermaßen effizienter arbeiten.

Prokrastination darf also nicht nur als »Dysfunktion« verstanden werden, die diagnostiziert und geheilt werden müsste, sondern auch als »Funktion und Strategie«, die es zu entdecken und zu kultivieren gilt. Robert Schumann beispielsweise spielte lieber Klavier, statt sein Jurastudium voranzutreiben. Linus Torvalds schloss sein Informatikstudium lange nicht ab, weil er währenddessen das Betriebssystem »Linux« entwickelte und die Coen-Brüder schrieben das Drehbuch zu »Barton Fink«, weil sie mit dem Drehbuch zu »Miller’s Crossing« nicht vorankamen.

Vom Finden des richtigen Moments

Wie ist der Zusammenhang zwischen »dem richtigen Moment« und Prokrastination?

Ausschlaggebend für den Arbeitstitel »Vom Finden des richtigen Moments« war das Verhalten Marcel Prousts im Bezug auf sein Werk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Meine Arbeit beginnt mit der Geschichte des heute bekannten Schriftstellers, der jahrelang unter dem festen Vorhaben litt, ein Buch zu schreiben. Er hatte es sich immer und immer wieder fest vorgenommen, er war motiviert und bester Vorsätze, doch konnte er aus irgendeinem Grund einfach nicht damit beginnen. Tag für Tag suchte er nach neuen Ausreden, die sein Verhalten begründeten und fasste täglich neue Vorsätze, wie er − ab morgen − endlich mit der Arbeit beginnen könne, bis ihn schließlich das Wissen über sein baldiges Ableben zu Höchstformen auflaufen ließ und er binnen weniger Wochen sein Lebenswerk auf mehreren tausend Seiten niederschrieb …

Er hatte für sich den richtigen Moment gefunden, war innerlich motiviert und damit bereit Dinge zu tun, die niemand mehr für möglich gehalten hätte. Der Titel meiner Arbeit soll demnach, anders als viele Ratgeberbücher, nicht vorschreibend oder fordernd klingen, sondern im Gegenteil Mut machen.

Vom Finden des richtigen Moments

Was war die wichtigste Erkenntnis, die Du gewonnen hast?

Prokrastination hat mit Faulheit nichts zu tun.

Vom Finden des richtigen Moments

Hat sich durch die Auseinandersetzung mit dem Thema für Dich nachhaltig etwas verändert? Gelingt es Dir, deine Erkenntnisse im Alltag umzusetzen?

Ja und Nein. Natürlich schiebe ich auch heute noch gewisse Dinge vor mir her, bin mir mittlerweile aber darüber bewusst, dass manche Dinge einfach ein Dutzend mal verschoben werden müssen, bis man sie vergisst oder sie einem egal werden. Gerade in der heutigen Zeit nehmen wir uns oft alles Mögliche und damit viel zu viel vor, sodass uns unser schlechtes Gewissen irgendwann unweigerlich plagt, weil alles auf einmal gar nicht zu schaffen ist. Im Idealfall hat man also ein oder zwei Aufgaben, die so wichtig sind, dass man sie unmöglich vergessen kann. Der Rest muss nicht heute erledigt werden, denn irgendwann wird er sich von selbst wieder melden – oder eben egal werden.

Vom Finden des richtigen Moments

Bist Du auf vorhandenes Material mit konkretem Designbezug gestoßen? Kannst Du Bücher oder Internetseiten empfehlen?

Neben unterschiedlichsten Studien und Recherchetexten habe ich mich unter anderem auch mit dem Buch »Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin« von Katrin Passig und Sascha Lobo beschäftigt, da es eines der wenigen Bücher ist, die das Thema ebenfalls auf eine eher positive und ermutigende Weise behandeln.

Außerdem sehr gut gefallen hat mir die Arbeit »Pro – Du bist Prokrastinationskönig, du bist Prokrastinationskönigin«, die zur Zeit während meiner Recherche bei euch auf der Seite vorgestellt wurde. Anna Sommerer befasst sich in ihrer spielerischen Abschlussarbeit ebenfalls auf positive Weise mit dem Thema, indem sie vor allem Studierende erreichen will, die aufgrund ihres Verhaltens mit einem schlechten Gewissen zu kämpfen haben.

Vom Finden des richtigen Moments

In welcher Form greifst Du das Thema gestalterisch auf bzw. wie setzt Du es visuell um? Welche Elemente, Farben oder Regeln spielen eine besondere Rolle und warum?

Prokrastination führt unweigerlich zu Zeitdruck und damit zu dem Problem, bestimmte Aufgaben nicht mehr rechtzeitig fertigstellen zu können, sodass – wenn überhaupt – nur noch Zeit für das Nötigste bleibt. Diesen Aspekt greife ich in der Umsetzung meiner Arbeit auf. Bestehend aus ungebundenen Einzelseiten im Standardformat DIN A4, lediglich von einem Gummiband zusammengehalten, »schnell« schwarzweiß gedruckt und mit zahlreichen »Fehlern« gespickt, soll alles den Eindruck vermitteln, die Zeit hätte nicht mehr gereicht, sich intensiver damit auseinanderzusetzen. Aus diesem Grund habe ich auch nur eine Schrift verwendet, nämlich die »Minion Pro« in Anlehnung an die »New York Times«, die in den meisten Programmen als Standardschrift voreingestellt ist. Die grauen Gestaltungselemente deuten Platzhalter an, die aufgrund der fehlenden Zeit leer geblieben sind. Einige Seiten zeigen zwar ein Raster, aber keinen Text, andere sind komplett weiß.

Da ich die Arbeit flexibel konzipieren wollte, je nachdem, wieviel Zeit dem Leser zur Verfügung steht, sich damit zu beschäftigen, habe ich zum einen ein Leitsystem entwickelt, das systematisch durch die Arbeit führt, während aber gleichzeitig auch jede Seite für sich stehend gelesen und verstanden werden kann. Inhaltliche Querverweise bieten dann wiederum die Möglichkeit, an anderer Stelle weiterzulesen und tiefer in das Thema einzutauchen.

Vom Finden des richtigen Moments

Textauszug:

Überforderung

Es blinkt, es piept, es klingelt − und das den ganzen Tag.

[…]

Inzwischen scheinen alle Menschen unter dem Gefühl zu leiden, dass sie, egal was sie anfangen, eigentlich schon zu spät dran sind. Immer will irgendwer irgendwas − und das schnell. Das ist nicht zu schaffen, aber dem Hamsterrad entziehen kann sich auch keiner wirklich, weshalb sich der moderne Mensch permanent im Zustand des schlechten Gewissens befindet, woran vor allem die Digitalisierung der Welt eine große Mitschuld trägt: 47 neue E-Mails heute, 29 gelöscht, acht beantwortet. Die anderen zehn? Morgen! Elf Anrufe in Abwesenheit, vier neue Updates verfügbar. Lena hat auf Facebook geschrieben, Dominik auch. Stefan hat dich zu einer Veranstaltung eingeladen: Nehme teil − Nehme nicht teil − Antwort auf … Telefon!

Die ständige Informationsflut stört die Konzentration und sie bringt Menschen vermehrt dazu, Arbeitsprozesse abzubrechen und Aufgaben immer weiter aufzuschieben. Durchschnittlich elf Minuten am Stück, so eine Untersuchung von Computerwissenschaftlern der University of California in Irvine, können wir uns im Alltag einer Aufgabe widmen, bevor ein Anruf, eine E-Mail, eine Kurznachricht oder eine Ablenkung jeglicher Art uns stört, weshalb der amerikanische Psychiater Edward M. Hallowell die Prokrastination in diesem Zusammenhang mit einer »natürlichen Reaktion auf Überforderung« begründet.

Vom Finden des richtigen Moments

Der Mensch ist zum Arbeiten geboren, wie der Vogel zum Fliegen

Deadlines sind unverzichtbar, wenn es darum geht, sich bei der Bearbeitung von Aufgaben zu motivieren, die nicht zu einhundert oder mehr Prozent aus einer geliebten Tätigkeit bestehen. Dabei ist es oft schwierig zu sagen, warum wir etwas gerne tun und noch schwieriger ist es festzustellen, warum wir etwas nur ungern tun.
Fest steht: Der Mensch ist erwiesenermaßen am glücklichsten, wenn er arbeitet, und zwar dann, wenn es sich um eine machbare, aber fordernde und vor allem selbstgewählte Aufgabe handelt. Nur dann gelangt man in den »Flow-Zustand«, der so heißt, weil er einen bei der Arbeit Zeit und Raum vergessen lässt.
Dieser Zustand ist sozusagen der Heilige Gral der Motivation, die verhaltenspsychologisch oft untersucht und mit einer Vielzahl verschiedener Theorien beschrieben worden ist, nach denen sich ihr störrisches Wesen im Einzelfall aber eben nicht immer richtet.
[…]

Edit