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Typographie denken

»Ich muss das nicht gelesen haben, um es gut zu gestalten.«

— Unbekannter Grafiker

In der Rhetorik heißt es: »Wenn man ein Problemlösungsgepräch führen will, braucht man ein Problem.« Das ist längst nicht so trivial, wie es zunächst klingen mag. Denn man – die am Gespräch beteiligten – muss nicht irgendein Problem haben, sondern alle müssen das gleiche Problem haben, sie alle müssen es als Problem erkennen oder wenigstens die Bereitschaft haben, das für den Anderen Problematische zu erkennen. Oft fehlt Auftraggebern – ob externen oder Vorgesetzten – dieses Verständnis. Und so ist von ihnen eine Anweisung zu hören, wie ein Entwurf geändert werden soll anstelle einer Beschreibung dessen, was ihnen nicht gefällt. Da ist dann, wenn das Ziel nicht offensichtlich ist, mit passender Einfühlung nachzufragen, was ihr Problem ist, was mit dieser Änderung erreicht werden soll. Oft genug liegt die Lösung im gegenteiligen Verfahren des zunächst verlangten. Hans Peter Willberg hat das schön beschrieben: »Der Text […] sei nicht gut genug lesbar, ich solle ihn größer machen, wurde mir aufgetragen. Ich habe die Schrift etwas kleiner gemacht und den Zeilenabstand im Verhältnis vergrößert […]« (1) Man war zufrieden.

Und das ist die erste große Aufgabe: die Analyse des Gegenstandes. Da wird aus dem Auftrag »Buchgestalten« ein ganzer Fragenkomplex. Was für ein Buch ist es, wer liest es warum, wie wird es gelesen – von vorne nach hinten am Stück, oder schlägt man ein einzelnes Stichwort nach, will man mehr über einen bestimmten Sachverhalt wissen, liest also nur einen Teil intensiv, oder soll jemand zum Lesen verführt werden? Hans Peter Willberg und Friedrich Forssmann haben in ihrem Werk Lesetypographie eine »Systematik der Buchtypographie« aufgestellt mit verschiedenen Arten von Typographie für acht Lesearten. (2) Diese Lesearten gelten in jeweils eigener Art auch für alle anderen typographischen Aufgaben, sie wurden jedoch noch nicht systematisiert. Immer muss analysiert werden, was zu lesen ist, wer es liest, warum es gelesen wird und was die Umstände des Lesens sind, welche anderen Reize da sind und ablenken können – und auch, in welcher Verfassung mit welcher Motivation gelesen wird. Wer lesen will, der nimmt mehr Erschwernisse in Kauf: der Fan liest auch den weißen Text auf buntem Hintergrundbild, gesetzt in einer Serifenschrift mit 6 Punkt im CD-Booklet. Ähnlich der Wissenschaftler, der sich durch vieles durchkämpft, ohne dass das Lesenwollen so recht vom Lesenmüssen zu unterscheiden ist, dem dieser Kampf aber erleichtert wird durch die Gewohnheit – trotzdem gilt: Wissenschaft muss nicht weh tun, selbst ein Bibliothekskatalog kann lese-, also benutzerfreundlich übersichtlich gestaltet werden.

Am anderen Ende der Größenskala stehen die Orientierungssysteme im Raum, oft genug auch am anderen Ende der Motivationsskala. Kurz vor Zugabfahrt in einem fremden Bahnhof in einem Land, dessen Sprache man kaum beherrscht oder bei einem Notfall im Krankenhaus, da will man nicht lesen, da will man sofort und ohne jegliches Zögern und Zweifeln zum Zug oder in die Notaufnahme geleitet werden.

Doch selbst diese beiden kleinen Szenen sind grundverschieden, im Bahnhof wie auch auf Flughäfen gibt es eine unermesslich größere Zahl an konkurrierenden Reizen durch mehr Menschen, die umherlaufen, und vor allem an anderen Schildern, Tafeln, Reklamebotschaften – da helfen nicht allein besonders gut lesbare Schriften in richtiger Größe und mit optimalem Kontrast. Ebenso müssen die Wegweiser und Hinweisschilder gut zu finden, auf den ersten Blick unterscheidbar sein von anderen, ob durch räumliche Trennung wie auf dem Amsterdamer Flughafen Schipohl oder durch eine besondere Formgebung wie auf dem Flughafen von Porto. Dabei greift die Typographie auch auf andere Bereiche über, verbindet sich mit Architektur sowie mit anderen Designsparten. Über die typographische Stimmung sagt das nichts, sie kann auf einem Flughafen genauso versuchen, die Urlaubsvorfreude zu visualisieren, wie Intégral Ruedi Baur es für Köln Bonn Airport gemacht hat. Im Krankenhaus ist man nicht freiwillig, auf der panischen Suche nach der Notaufnahme wird neben einer eindeutigen, simplen und möglichst leicht verständlichen die Typographie und Ikonographie eine beruhigende Wirkung Ziel sein.

Andere Orientierungssysteme richten sich an häufige Besucher mit mehr Ruhe – und da kann sogar die Lesbarkeit der verwandten Schrift eine untergeordnete Rolle spielen und die Persönlichkeit der Institution in den Vordergrund treten wie bei der Cité internationale universitaire de Paris (von Intégral Ruedi Baur) – dort werden in der Schrift lateinische Zeichen durch ähnlich aussehende anderer Schriftsystem ersetzt, je größer die Schrift, umso häufiger.

Neben objektiven Kriterien spielen immer auch subjektive Vorlieben und Abneigungen eine Rolle. Zu den objektiven Kriterien, die Ziel der Analyse der Aufgabe sind, gehört nicht die Lesbarkeit. Die Untersuchungen zu diesem Thema sind bei aller Mühe nicht wissenschaftlich, viel zu viele Parameter sind unbestimmt und von individuellen Voraussetzungen beeinflusst. Vieles andere jedoch ist einfach festzustellen und bestimmt die Richtung der Lösung.

Zurück zu den kleinen Dingen, zu den Büchern und ähnlichen Drucksachen. Als erstes ist die Textmenge festzustellen und dann die Struktur des Textes, seine Strukturierung durch Kapitel und Unterkapitel, durch Abschnitte und Absätze wie auch die interne Differenzierung: kursive Passagen, gewünschte und notwendige Auszeichnungen, Zahlen und Ziffern, andere Schriftsysteme, Bebilderung, Grafiken, Tabellen. Das kann bis hin zu einzelnen Zeichen gehen: bei einem Buch über die Quäker wird man besonderen Wert auf das Q legen, was bei einem allgemeinen Religionslexikon schon keine besondere Rolle mehr spielt. Doch die Schriftdetails dürfen nicht isoliert betrachtet und überbetont werden, entscheidend ist der Gesamteindruck der Schrift in der Kolumne.

Gegebene Zeichenzahl und vorgesehener Umfang geraten bei Beachtung üblicher Textgrößen oft in Konflikt, meistens hat man zu viele Zeichen für zu wenig Seiten, aber andersherum ist nicht einfacher. Ein wenig – oder bei schwach strukturierten Texten auch erstaunlich viel – lässt sich über die Wahl einer schmaler laufenden Schrift ausgleichen, oft ist aber das Gespräch mit Autoren, Redaktion oder Vertrieb (für einen größeren Umfang und damit höheren Preis) zu suchen.

Zu den objektiven Kriterien gehören auch Zielgruppe (obwohl deren Bestimmung wiederum eine Pseudowissenschaft ist) und Medium und Präsentationsform: Wer häufig und viel liest, der hat die notwendige Übung, auch lange Zeilen unter schlechten Bedingungen zu lesen, wie man täglich in S- & U-Bahnen bei den Schmökern sieht, die allen Faustregeln der Lesbarkeit widersprechen. Andere Regeln gelten für unruhige Umgebungen wie Ausstellungen, wo wiederum zwischen der ersten Orientierung im Raum, einführenden Tafeln und den Beschriftungen der einzelnen Objekte unterschieden werden muss. Hier müssen nicht zuletzt die unruhige Umgebung und das Lesen im Stehen bedacht werden.

Aus den so festgestellten Elementen ergibt sich keineswegs automatisch eine Gestaltung, alle Behauptungen wie »Die Typographie ist die Kunst, von sich selber abzusehen« (Kurt Weidemann) sind einfach Unfug und nichts als aufgeblasene Pseudobescheidenheit. Jede Gestaltung ist Interpretation, in der Architektur wie in der Typographie wie auf dem Theater. Es geht weniger darum, überkommene Regeln zu befolgen als vielmehr darum, zu wissen, welche Folgen welche Entscheidung hat. Man muss sich nur entscheiden, wie man interpretiert:

Will ich eine klassische Erscheinung, die (fast) so auch ein- oder dreihundert Jahre alt sein kann?

Will ich ganz von heute sein auf die Gefahr hin, schon nächste Woche uninteressant zu sein?

Oder vielleicht zeigen: ich kenne die Geschichte der Gestaltung und interpretiere die klassischen Elemente auf eine zeitgemäße Art?

Für alle Formen muss man die verschiedenen Formensprachen nicht allein in der Schriftgestaltung kennen, die Schriftwahl unterliegt nicht allein technischen, sondern auch inhaltlichen Kriterien. Die DIN-Klassifikationen sind keine Hilfe, die brauchen nur Historiker und andere Nerds. Es geht um andere Trennlinien: dynamisch – statisch – geometrisch einerseits, die Spuren der Schreibwerkzeuge Schurzugfeder, Wechselzugfeder und Spitzfeder andererseits. Als drittes noch die Behandlung der Strichenden: ohne oder mit Serifen sowie deren Formung und Betonung.

Die Schriftwahl wird genauso von der anderen Seite bestimmt, von der Leserschaft und ihren aus Gewohnheit und Erfahrung gewachsenen Erwartungen. Auch wenn die wenigsten sagen können, um welche Schrift es sich bei einem Beispiel handelt, viele nicht einmal zwischen Schriften mit Serifen und solchen ohne unterscheiden können – die Erfahrung schafft immer Konnotationen, ob bewusste oder unbewusste. Es gibt Schriften wie die Garamonds, mit denen eigentlich alles in Büchern geht, weil schon alles damit gesetzt wurde. Aber die meisten Schriften haben eine eingeschränkte Verwendbarkeit. So kann dann auch die von der Autorin gewünschte Bodoni – »weil sie mir so gut gefällt« – die richtige für einen Liebesroman sein. Wenn nämlich die Geschichte der Liebe zwischen dem angejahrten, trockenen Bibliothekar und der blutjungen, knackigen Friseuse genauso verläuft wie man es von diesem Klischee erwartet. Oder die neue Hausschrift der Deutsche Bahn AG, die die Helvetica ersetzt – ist sie gut, weil sie dem Verhältnis des DB-Managements zur Kundschaft hervorragend Ausdruck verleiht oder ist sie misslungen aus eben diesem Grund, der geringen Funktionalität, die die Leserschaft fast verachtet? In den entscheidenden Anwendungsfällen wie Fahrplänen verliert sie gegen die Helvetica, da die Buchstaben keine kohärente Formensprache haben. So fragt man sich unter anderem immer wieder, was dieser winzige beschädigte Doppel-T-Träger bei der Angabe »Mo–Fr« soll – ach, das ist das kleine r, das Serifen hat; Serifen, die größer und wichtiger sind als alles andere an diesem Buchstaben, vor allem deutlicher als genau das, was ein kleines r auszeichnet, nämlich die Fahne, Serifen in einer ansonsten serifenlosen Schrift. Daran sieht man nebenbei, dass man auch dem von den Schriftgestaltern und herstellern vorgesehenen und angegebenen Verwendungszweck nicht blind vertrauen darf; und dass die Details einer Schrift ihren Charakter verleihen.

Aus diesen Überlegungen zu Zielgruppe und Anspruch, zu Schriftwahl und -charakter folgt ein Satzspiegel, folgt die Bestimmung von Größen und Abständen, wobei zwischen diesen Elementen vielfältige Abhängigkeiten bestehen und eine Änderung an der einen Stelle eine Änderung an anderen Stellen zwangsläufig nach sich zieht – hier hilft Denken allein nicht weiter. Es müssen Probeausdrucke in Originalgröße her, egal was die Professorin sagt, die seit Jahren kein einziges ihrer Layouts mehr ausgedruckt hat. Die Wirkung lässt sich nur bedingt vorstellen, es geht um die Wirkung im Zielmedium. Und es muss Gefühl dabei sein.

Das Zielmedium ist nicht zu unterschätzen. Schon der Unterschied zwischen dem matten, weißen Papier im Laserdrucker und dem matt gestrichenen Bilderdruckpapier ist deutlich sichtbar. Mit getönten Papieren, anderen Oberflächen und anderen Druckverfahren gibt es weitere Einflussfaktoren. Typographie ist nicht nur das Schwarz der Schrift, sondern ebenso das Weiß in, zwischen und um die Zeichen. Diese Beziehung zwischen Schrift und Untergrund bestimmt die Farbigkeit der Seite im Sinne von Grauwert, Kontrast, Flächenwirkung. Ändern sich die Farben von Schrift oder Untergrund, ändert sich auch die Wirkung der Schrift.

Bei Bildschirmen und Leuchtkästen ändert sich noch viel mehr, es sind nicht nur die Überstrahlungen zu beachten. Wird ein Produkt gleich für mehrere Medien geplant, wird eine Schriftwahl noch viel schwieriger. Was auf Papier überzeugt, muss noch lange nicht am Bildschirm funktionieren. Webfonts sind in der Regel keine Lösung außer für Überschriften. Sie sind nicht für die Bildschirmdarstellung optimiert, sondern beschreiben nur eine technische Möglichkeit, Schriften darzustellen, ohne sie auf dem Rechner, der den Bildschirm ansteuert, installiert zu haben. Über die Bildschirmdarstellungsqualität sagt das nichts. Diese benötigt eine Unmenge zusätzlicher Arbeit, die entsprechend zu honorieren ist über höhere Preise für die Fonts. (3)

Es muss Gefühl dabei sein beim Typographie Denken, denn es geht um letztlich willkürliche Entscheidungen. Auch wenn es für jede einzelne Entscheidung eine rationale Begründung gibt, könnte es ein anderer Aufbau sein, wäre eine andere Farbigkeit ebenso passend wie eine andere Schrift. Es gibt in der Typographie nicht die eine richtige Lösung, es gibt passende und unpassende Lösungen. Eine passende Lösung ist eine, bei der Stimmung und Aussage des Inhalts eine Entsprechung in der Typographie finden, sei es eine harmonische und verstärkende Entsprechung, sei es eine aufregend andere oder gar verstörende. Um gute Typographie zu machen, muss man lesen. Auch lesen.

Lesen sollte verstanden werden nicht einfach als die passive Aufnahme von Wörtern, sondern im Sinn des Durchdringens des Gegenstandes, der Erkenntnis der Kernaussage. Gute Typographie ist eine Entsprechung dieser Aussage, verschafft ihr einen passenden Ausdruck. Ohne Lesen in diesem Sinn kann Typographie bestenfalls schön sein, dekorativ – aber nicht gut.

Außer dieser Kopfarbeit bedarf es dann noch der Handarbeit der schwarzen Kunst und der Phantasie, um nicht das immer gleiche zu machen, um weder in falsch verstandener Tradition zu versteinern oder in sturer Befolgung der Regeln in der tödlichen Langeweile der Raster zu erstarren.

Mit jedem neuen Projekt muss man immer wieder ganz von vorne anfangen, lesen, vor- und nachdenken, ganz von vorne anfangen, ohne die Erfahrungen zu vergessen.

(1) Aus: Hans Peter Willberg: Der vertikale Keil, in : ders.: Typolemik. Streiflichter zur Typographical Correctness, Mainz 2000, S. 122.

(2) Hans Peter Willberg, Friedrich Forssmann: Lesetypographie, Mainz 1997. Sie unterscheiden folgende acht Lesearten: lineares Lesen, informierendes Lesen, differenzierende Typographie, konsultierendes Lesen, selektierendes Lesen, Typographie nach Sinnschritten, Aktivierende Typographie und Inszenierende Typographie.

(3) Bei Linotype werden die für den Bildschirm optimierten Schriften mit dem Kürzel XSF gekennzeichnet, derAbkürzung für eXcellent Screen Fonts, bei FontShop mit dem Kürzel Offc für Office.

Zum Autor
Johannes Steil studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte in Kassel und Hamburg, er arbeitet seit 1996 als Grafikdesigner mit dem Schwerpunkt Buchgestaltung und Typographie.

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