Die Visitenkarte ist tot, es lebe die Visitenkarte!
Hand aufs Herz. Brauchen wir heute noch Visitenkarten oder sollten wir auch hier dem sich langsam durchsetzenden Umweltbewusstsein folgen und auf Printprodukte so gut es geht verzichten? Tauschen wir unsere Kontaktdaten nicht ohnehin längst auf digitalem Wege aus? Klingeln kurz beim Gegenüber an, damit dieser sich unsere Nummer abspeichern und später unsere Mailadresse via WhatsApp bekommen kann? Oder sind hochwertige Visitenkarten doch noch ein Qualitätsmerkmal auf den Parketten von Industrie, Handel und Medien? Wenn wir nun am Grabe der Visitenkarte stehen, mit Blumenkranz und Trauerflor in der Hand, lohnt es, auf das Leben der da Liegenden zurückzuschauen, um zu entscheiden, ob der Glaube an eine Wiederauferstehung gerechtfertigt ist.
Rückblick auf das Leben eines treuen Begleiters
Geboren, irgendwann vor Hunderten von Jahren im fernen China. Dann die Einschulung in Frankreich und Großbritannien und schließlich aufgewachsen in ganz Europa und den Vereinigten Staaten. Doch die, wenn man so will, berufliche Bestimmung der Visitenkarte unterschied sich zunächst von ihrer späteren Tätigkeit. Wie es der französische und der selten gebrauchte deutsche Name vermuten lassen, wurde die Visiten- bzw. Besuchskarte zu Zeiten Goethes nicht etwa gebraucht, um damit die eigene Anschrift einem Anderen schriftlich mitzuteilen, sondern, um sich selbst anzukündigen, respektive vorzustellen. Goethes Visitenkarte enthielt daher lediglich seinen Namen. Bei einem Besuch, ob zu einem festlichen Anlass oder zur Kondolenz, wurden die Karten beim Diener des Hauses abgegeben. Dieser brachte sie dann dem Hausherrn oder der Hausdame. Um neben dem geschriebenen Namen dennoch einige Informationen mitteilen zu können, wurden Knicke in der Karte genutzt. Obere linke Ecke geknickt stand für „pour visiter“, zum Besuch. Wie eine hinterlassene Nachricht auf der Mailbox war dies besonders dann hilfreich, wenn der zu Besuchende nicht angetroffen wurde. War die untere linke Ecke geknickt, bedeutete dies „pour féliciter“, zur Gratulation. Diese Aufgaben der Visitenkarte sollen an dieser Stelle jedoch als Beispiele ausreichend sein.
Nach langer Krankheit friedlich entschlafen
Nach einem Jobwechsel der Visitenkarte musste sie deutlich härter arbeiten. Es war eine schier endlose Plackerei, voll beladen mit Adresse, Unternehmensname, Position in der Firma, Telefon- und Faxnummer, Mailadresse und vieles mehr. Doch die Visitenkarte hielt sich tapfer und war ein geschätzter Helfer bei jedem ersten Aufeinandertreffen potenzieller Geschäftspartner. Mit dem Öffnen eines Etuis und dem Überreichen einer Karte war das Nötigste mitgeteilt und einem weiteren Kontakt stand Nichts im Wege.
Die Visitenkarte hatte sich ihre Position in der Geschäftswelt hart erkämpft und doch, sägten jüngere Modelle und Methoden bereits an ihrem Stuhl. Mit der Digitalisierung kamen ihre Konkurrenten auf den Plan. Das Adressbuch im Mailverzeichnis, welches alle nötigen Informationen leicht abrufbar speichert und auf Wunsch versendet. Das Smartphone, welches mit nur wenigen Klicks Kontaktdaten über Messengerapps verbreitet und nicht zu Letzt sogar Spielereien, wie der QR-Code, der im Netz hinterlegte Kontakte von überall abrufbar macht. Der Kampf für die gedruckte Karte aus feinstem Karton war verloren. So stehen wir heute in Trauer um den einstiegen Helfer an dessen Grabe versammelt. Werfen Blumen in das Grab und vergießen Tränen des Schmerzes.
Wiederauferstehung – Oder: Totgesagte leben länger
Doch warum die Trauer, wenn doch bereits Alternativen die Stellung der Visitenkarte eingenommen haben? Die Antwort auf diese Frage liegt genauso auf der Hand, wie es eine Visitenkarte über Jahrhunderte selbst getan hat. Visitenkarten sind greifbar. Sie sind, ein anspruchsvolles Design und eine hochwertige Verarbeitung vorausgesetzt, optisch einfach schön. Sie bleiben in Erinnerung und werden nicht nur zu Nullen und Einsen auf dem Rechner oder im Telefon. Visitenkarten zeugen von Tradition und guter Schule. Sie sind verbindlich und geben dem Gegenüber das Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit. Visitenkarten sind auch ein Stück weit wieder Mode, weil sich gerade in der schnelllebigen und unbeständigen Geschäftswelt der Fokus wieder auf das Wesentliche, das Materielle richtet.
Das große Ganze im Kleinsten gespiegelt
Um abschließend noch einmal Goethe zu bemühen. „Willst du dich am Ganzen erquicken, so musst du das Ganze im Kleinsten erblicken.“ Bedeutet das nicht gerade auch für unsere totgesagte Visitenkarte, dass sie der Ausdruck für alles ist, was hinter ihr steht? Eine kleine Karte aus Karton spiegelt eine Person, ja ein ganzes Unternehmen wieder. Ihre Aufmachung, ihr Design entscheidet, wie die Person und das Unternehmen auf den Empfänger der Karte wirken. Ist sie sauber und ordentlich, gut strukturiert und markant, schreibt man diese Eigenschaften auch dem Gebenden dieser Karte zu. Sind Druck und Papierauswahl von hoher Qualität, trifft diese Aussage sowohl im Kleinsten zu und letztendlich auch beim großen Ganzen. Die Visitenkarte ist das Tor, welches den Eintritt in die Beziehung mit ihrem Besitzer ermöglicht. Dieses Tor muss jedoch deutlich zu sehen sein. Es muss gefunden werden können. Denn wie heißt es in Goethes Gedicht weiter. „Doch soll das Kleine je werden groß, so muß es sich rühren und regen.” Eine lebendige, regsame Visitenkarte dient mehr, als es all ihre Nacheiferer je könnten.